Das Haus Der Schwestern
schlechter wurde.
»Hoffentlich sind wir bald da«, sagte sie.
»Soll ich dich wieder ablösen?« fragte Ralph. Er hatte die ganze Zeit über schweigend zum Fenster hinausgesehen.
»Ich fahr’ noch ein Stück. Dann würde ich mich allerdings über Ablösung freuen. Es wird doch recht anstrengend jetzt.« Barbara löste den Blick für einen Moment von der Straße und sah zu Ralph hinüber. Seit dem frühen Morgen schon betrachtete sie ihn immer wieder verstohlen. Wie albern sie sich benahm! Sie kannte diesen Mann seit fünfzehn Jahren, war seit elf Jahren mit ihm verheiratet. Und nun warf sie ihm Blicke zu, wie sie es als Teenager bei gutaussehenden Jungs getan hatte, die für sie allesamt unerreichbar gewesen waren. Aber so wenig ihr Verhalten zu ihrem Alter und dazu noch Ralph gegenüber passend schien, so wenig vermochte sie es zu ändern. Er sah so anders aus an diesem Tag, und das war ein weiteres alarmierendes Anzeichen dafür, daß sie viel zu wenig Zeit miteinander verbrachten, daß sie sich viel zu weit voneinander entfernt hatten. Sie kannte ihn nur noch in Anzug und Krawatte, kannte nur noch den erfolgreichen Anwalt Ende Dreißig, der sich auf den Weg in seine Kanzlei machte, mit abwesendem Blick, da er gedanklich stets mit den Prozeßakten beschäftigt war, an denen er gerade arbeitete. Es haute sie einfach um, ihn plötzlich in Jeans und Pullover zu erleben, die dunklen Haare nur flüchtig gekämmt, den Blick ebenfalls abwesend, aber vertieft in die vorüberrauschende Landschaft, weich und entspannt.
»Du siehst eigentlich ziemlich jung aus für einen Mann, der in ein paar Tagen vierzig wird«, sagte sie.
Ralph runzelte die Stirn. »Ist das ein Kompliment?«
»Was denn sonst?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Schau mal, da vorne an der Gaststätte kannst du rausfahren. Laß uns tauschen.«
Sie tat, was er sagte, und fuhr auf den Parkplatz vor einem Happy Eater. Ralph stieg aus und lief um das Auto herum, während Barbara auf seinen Sitz hinüberrutschte. Als Ralph wieder einstieg, waren seine Haare weiß vom Schnee.
»Das geht ganz schön los da draußen«, meinte er. »Wir sollten sehen, daß wir vorankommen. Wenn es heftiger wird, bleiben wir noch irgendwo stecken.«
»Ich dachte immer, in England schneit es kaum!«
»Relativ selten im Süden. Aber in Nordengland und Schottland hat es schon richtige Schneekatastrophen gegeben.« Ralph lenkte den Wagen wieder auf die Straße. »Das wird aber diesmal sicher nicht der Fall sein«, fügte er beruhigend hinzu.
Gegen halb vier erreichten sie Leyburn, wo sie einen Polizisten nach dem Weg nach Leigh’s Dale fragten.
»Immer der A684 nach«, erklärte er, »Wensley, Aysgarth, Worton. Bei Worton biegen Sie ab in Richtung Askrigg. Leigh’s Dale liegt noch ein Stück weiter nördlich, Richtung Whitaside-Moor.«
Nachdem sie die Hauptstraße, die Wensleydale durchschnitt, verlassen hatten, befiel sie mehr und mehr das Gefühl, in eine weltabgeschiedene Einsamkeit vorzudringen. Endlos erstreckten sich die hügeligen, von kleinen Mauern durchzogenen Wiesen nach rechts und links, bereits von einer Schneeschicht bedeckt. Wie schwarze Gerippe ragten Bäume in den Himmel. Dann und wann duckte sich das braune Gemäuer eines Hauses in eine Senke, oder ein anderes trotzte auf einem Hügel dem kalten Wind. Am Horizont verschmolzen Erde und Himmel im Schneetreiben zu einem grauen Inferno. Schwarze Vögel schrien über der Weite. Als ein verwittertes Schild mit der Aufschrift »Leigh’s Dale, I Mile« auftauchte, stieß Barbara einen Laut der Erleichterung aus. »Endlich! Ich dachte schon, hier kommt nichts mehr! «
Wie sich herausstellte, bestand Leigh’s Dale aus nicht mehr als einem Dutzend Häuser, die sich entlang der schmalen Dorfstraße aufreihten, dazu eine Kirche und ein Friedhof. Niemand hielt sich draußen auf, nur ein paar Autos parkten am Straßenrand. Immerhin brannten hinter einigen Fenstern bunte, elektrische Kerzen, und an zwei Türen hingen Weihnachtskränze mit großen roten Schleifen.
»Da vorne scheint ein Laden zu sein«, sagte Ralph, »dort können sie uns bestimmt erklären, wie wir zum Westhill House kommen. Außerdem sollten wir ein paar Vorräte kaufen. Unsere Vermieterin sorgt sicher nicht für ein Abendessen, und ich habe Hunger!«
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Barbara zu, »wir kaufen jetzt das Notwendigste, und morgen decken wir uns für Weihnachten richtig ein. Stell dich doch gleich hier hinter diese
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