Das Haus der Tänzerin
fernen, lavendelfarbenen Dunst der Berge schweifen. Selbst hier, abseits der Front, stellten Heckenschützen noch ein Risiko dar. Sie nahm eine Puderdose aus der Brusttasche und zog sich mit ihrem scharlachroten Lippenstift die Lippen nach. Dann glättete sie sich die Haare über ihrer hohen Stirn und strich sich etwas Erde von der Wange. Als sie Capas Lachen hörte, blickte sie auf und lächelte ihn an.
»Ich habe gerade mit den Jungs geredet. Wir ziehen weiter«, sagte er. Sie spürte ein vertrautes Verlangen in sich aufsteigen, während er auf sie zukam. Es war immer dasselbe, seit dem Moment, als sie ihn in Paris zum ersten Mal gesehen hatte. »Ich würde sagen, wir machen noch ein paar Aufnahmen und fahren dann nach Madrid zurück.«
Sie fuhr durch seine dicken, dunklen Haare. »Lass uns ins Hotel …«
»Also das«, sagte er und legte ihr den Arm um die Taille, »das ist die beste Idee, die ich heute gehört habe, Fräulein Taro.«
»Ehrlich gesagt, alles, was ich brauche, ist ein heißes Bad und ein sauberes Bett, Mister Robert Capa.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu, als sie sich aus seiner Umarmung wand, um vorauszugehen.
»André«, rief er hinter ihr her. »Nicht Capa. Für dich bleibe ich immer dein André.«
»Immer«, sagte sie lachend. Sie blickte in den Himmel hinauf und schützte die Augen vor der Sonne. »Robert Capa, das bin ich jedenfalls genauso, wie du es bist.« Gerda wandte sich zu ihm um. »Wir haben ihn geschaffen. Den größten amerikanischen Kriegsfotografen der Welt.«
»Hast du mich gerufen?« Er hob eine Augenbraue und grinste sie an, während er die Kamera auf die andere Seite nahm. »Eines Tages schleppe ich dich vor den Traualtar«, sagte er.
Gerda warf ihm einen Blick über die Schulter zu, als sie flink den Hügel hinunterlief. »Wir werden sehen, André. Zuerst machen wir Robert Capa zu einer Legende, oder?« Sie sah ihm zu, wie er ein kleines Stück bergauf rannte, seine Leica hob und auf einen der Milizsoldaten richtete. Der Verschluss klickte, irgendwo wurde ein Abzug betätigt, und der Soldat wurde im Fall von der Kamera festgehalten, erstarrt zwischen Himmel und Erde, gefangen in der Geschichte.
2
London, 11. September 2001
Das Problem, Em, liegt darin, dass sie – also die Ärzte – gesagt haben, es wäre » ein Abschluss « für mich (was für ein schauderhaftes Wort), wenn ich dir einen Brief hinterlasse. Ich sagte: » Glauben Sie wirklich, ich kann die Erfahrung eines ganzen Lebens in einem einzigen Brief zusammenfassen? Kann ich alles, was ich meiner Tochter sagen will, auf ein paar wenige Seiten Papier bringen? « Ich kann es nicht. Du kennst mich. Ich habe doch nie aufgehört, weiterzuquasseln, mein Schatz.
Emma kam in diesem Moment ein Bild von Liberty in den Sinn – ihre Mutter am Küchentisch bei ihrer Großmutter Freya sitzend. Das musste Ende der Siebzigerjahre gewesen sein, denn vor der Morgensonne bildeten Libertys kastanienbraune, im Stil von Kate Bush gewellte Haare einen Heiligenschein, und im Radio lief Blondie . Beim Reden gestikulierte sie mit den Armen, und Freya konnte sich kaum halten vor Lachen. Emma hatte es sich im Hundekorb neben dem Ofen gemütlich gemacht und aß Toast, während sie mit Charles’ neuem Boxerwelpen kuschelte. Das hatte sie noch in Erinnerung – den charakteristischen Geruch von zu Hause, von frisch gebrühtem Kaffee, knusprigem Toast, den trockenen Keksgeruch des Hundes, während er an dem grünen Emailschild mit der Aufschrift »Head Girl« spielte, das an ihrem Wollpullover steckte. Manche Menschen erinnern sich anhand von Bildern oder Liedern, aber bei Emma war es stets der Duft. Liberty hatte ihr viel beigebracht, und schon als Kind erkannte sie instinktiv die harmonischen Noten des Duftakkords, der für sie »zu Hause« ausmachte.
»Emma, Liebes, nun steh doch auf«, hatte Freya damals gesagt. »Deine Schuluniform ist ganz voller Haare.« Emma erinnerte sich, wie warm der Hund war, an seinen zarten hellbraunen Bauch, der sich an ihre kleinen Hände schmiegte. Sie erinnerte sich, wie Liberty sie gekitzelt hatte, bis sie beide kichernd auf dem Boden lagen, während der kleine Hund um sie herumsprang. Wenn ihre Mutter sie umarmte, atmete Emma den Duft ihres Parfums ein. Rosen – für sie roch Liberty immer wie ein Rosengarten in voller Blüte; warm, sonnendurchflutet, ein reines soliflore .
Du merkst gleich, ich habe es ein wenig übertrieben. Ich habe dir eine ganze Schachtel Briefe zurückgelassen, für
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