Das Haus der Tänzerin
jede Gelegenheit, die mir nur einfällt, einen. Und mein letztes Notizbuch habe ich dazugelegt. Ich würde mich freuen, wenn du da weitermachst, wo ich aufgehört habe, Em. Versprich mir, dass du es weiterführst. Benutze es. Fülle es mit wundervollen Dingen.
Emma stützte den Ellbogen auf den Koffer neben ihr. Sie war monatelang auf Reisen gewesen, aber während sich der Routemaster-Doppeldecker der Linie 22 durch den Mittagsverkehr auf der King’s Road quälte, spürte sie, wie all die Zeit von ihr abfiel. Es war ein typischer kühler, grauer Londoner Tag, ein leichter Herbstwind blies Laub über die Gehsteige. Nichts hatte sich geändert, nur sie selbst. Die Übelkeit, die sie seit Monaten verfolgte, stieg wieder in ihr auf, und sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Pfefferminzbonbon. Das Futter war zerrissen, und während sie Libertys Brief las, fuhr sie mit dem Zeigefinger am Saum entlang, suchte jedoch vergeblich.
Schon hundert Mal hatte sie mit gezücktem Stift die letzte Seite im Notizbuch ihrer Mutter aufgeschlagen, war jedoch erstarrt, unfähig, an der Stelle weiterzuschreiben, wo Liberty aufgehört hatte. Nichts kam ihr wundervoll genug vor. Ein letztes Mal überflog Emma den Brief. Sie hatte nur diesen einen mit auf ihre Reisen genommen und ihn so oft gelesen, dass das Papier an den Falzen schon auseinanderbrach. Die Briefe warteten in einem schwarzen Lackkästchen in Libertys Werkstatt auf sie, ungeöffnet. Nachdem das Testament ihrer Mutter verlesen worden und Joe abgereist war, hatte Emma stundenlang im Licht der Morgendämmerung, das durch das schräge Glasdach fiel, das Kästchen angestarrt. Sie hatte es in die Mitte von Libertys Tisch gestellt – einer eigens gebauten »Parfümeur-Orgel«, umgeben von mehrstufigen Regalen mit Flaschen, die je eine Duftnote enthielten. So hatte Liberty Emma ihr Handwerk beigebracht – sie sollte sich jede Essenz als musikalische Note vorstellen, jedes Fläschchen auf der Orgel als Taste. Hier hatte Liberty all ihre Meisterstücke komponiert, hier hatte Emma als Kind gespielt. An diesem Ort spürte sie die Präsenz ihrer Mutter immer noch am meisten.
Das Klirren der Milchflaschen, die geliefert wurden, hatte sie schließlich endgültig aufgeweckt, und sie hatte den Deckel des Kästchens abgenommen. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie von Liberty erwartete – eine Konfettiexplosion, eine zusammengerollte Papierschlange, die ihr entgegensprang. Sie lachte erleichtert, als sie feststellte, dass ihre Mutter das Kistchen innen einfach leuchtend orange angemalt hatte – ihre Lieblingsfarbe. Mit zitternder Hand nahm sie das oben aufliegende lose Blatt ab. Darunter befand sich ein Päckchen Briefe, zusammengebunden mit einer kirschroten Samtschleife, und das kleine schwarze Notizbuch. Auf dem ersten Umschlag stand »Über die Familie«. Als Emma den dazugehörenden Brief von ihrer Mutter las, stiegen ihr Tränen in die Augen.
Ich hab dich lieb, Em. Ich bin so unglaublich stolz auf die Frau, zu der du geworden bist. Die Vorstellung, dich zu verlassen, ist unerträglich, aber du musst wissen, dass meine Liebe dich überallhin begleitet und immer bei dir sein wird. Ich weiß, dass die Liebe weiterlebt.
Kuss, Mama
An diesem Morgen war sie versucht gewesen, gleich alle Umschläge aufzureißen, Libertys Worte hungrig zu verschlingen. Schon diesen einen Brief immer wieder zu lesen brachte sie ihr näher. Aber sie wartete. Als sie Freya erzählte, sie habe beschlossen, die Briefe in London zu lassen, solange sie unterwegs war, hatte Freya gelacht.
»Das ist deine Entscheidung, Em«, sagte sie. »Du hast dir schon als Kind immer deine Naschereien aufgehoben. Ich kenne niemanden, der sich einen Schokoriegel so lange aufgespart hat.«
Emma holte tief Luft und blickte aus dem Fenster. Zu ihrer Haltestelle war es nicht mehr weit. Vielleicht sollte ich mal damit aufhören, das Beste bis zum Schluss aufzuheben , dachte sie. Sie faltete den Brief zusammen, steckte ihn in das Moleskine-Notizbuch ihrer Mutter, das sie auf dem Schoß liegen hatte, und blätterte weiter durch die in Libertys extravaganter Handschrift beschriebenen Seiten. Einzelne Wörter sprangen ihr entgegen – »Neroli«, » duende «, »Leidenschaft«. Ihre Mutter hatte Zeitungsausschnitte neben ihre Notizen und Rezepte für die neuen Parfüms, an denen sie arbeitete, geklebt – Bilder von Orangenhainen und leuchtend blauem Himmel, eine vergilbte Zeitungsanzeige für eine Ausstellung von Robert Capa. Es
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