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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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bemerkte Matriarchin Woo. »Ich glaube, deine Behandlung hat gewirkt.«
    »Dann werde ich wieder gehen«, sagte Lu See und faltete ihre Hände zum Abschiedsgruß.
    Als sie auf dem Weg zur Tür war, bat Matriarchin Woo sie noch einmal zu sich. Die alte Dame fasste Lu See an den Armen.
    »Jahrelang habe ich dich dafür gehasst, dass du ohne meinen Sohn zurückgekommen bist. Jahrelang habe ich dir die Schuld an seinem Tod gegeben. Jahrelang habe ich meine Enkelin verleugnet … das bedauere ich jetzt sehr.«
    Lu See studierte ihr Gesicht, das noch immer den gehetzten und abgekämpften Ausdruck einer Mutter zeigte, die ihren Sohn verloren hat.
    »Ich danke dir, Lu See«, sagte sie schließlich. Sie sahen einander tief in die Augen – Adrians Mutter lächelte traurig. »Ich wünschte«, sagte sie dann mit leiser Stimme, »es gäbe eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu ändern, aber dies bleibt leider ein Traum.«
    »All meine Erinnerungen an ihn sind in meinem Herzen verschlossen …« Lu Sees Stimme verlor sich. »Wie in einem Schrein.«
    »Vielen Dank, dass du meinem Enkel geholfen hast. Ich kann jetzt verstehen, warum Adrian dich geheiratet hat.«
    Lu See neigte ihren Kopf und küsste der alten Dame die Hand. Als sie am Fuße der Treppe angelangt war, nahm sie Adrians alte Armbanduhr ab und legte sie auf den kleinen Tisch im Flur, bevor sie in die dunkle Nacht hinausging.
    Dank der Bemühungen des Militärkaplans bekam Onkel Hängebacke einen Armeelaster und mehrere Kulis mit Schaufeln zugeteilt. Er fuhr mit dem Laster bis an den Rand des Dschungels und wies die Kulis dann an, an einer bestimmten, mit einem Grabstein gekennzeichneten Stelle zu schaufeln.
    Lu See und Mabel hatten sich, vor der gleißenden Sonne geschützt, ganz in der Nähe ins Unterholz gesetzt.
    »Liegt dort der Schatz?«, fragte Mabel und versuchte, ihre wachsende Aufregung zu verbergen.
    »Ja, hab einfach noch ein wenig Geduld«, antwortete Lu See. Aber auch ihr Gesicht glühte vor Vorfreude auf diesen Triumph.
    Einer der Kulis bog das wuchernde Chinaschilf zurück, während die anderen beiden zu graben begannen.
    Doch bereits zehn Minuten später hörten sie auf zu arbeiten.
    »Haben sie den Schatz gefunden?«, rief Mabel und rannte aufgeregt los, um in den ausgehobenen Graben zu sehen.
    In dem vom Erdaushub und abgebrochenen Grashalmen umgebenen Loch stand eine große hölzerne Kiste.
    »Was ist das?«, wollte Lu See wissen. »Die war vorher nicht da. Wir haben doch Leinwand verwendet.« Sie sah Onkel Hängebacke irritiert an, während sie versuchte, aus dem Ganzen irgendwie schlau zu werden. »Ich verstehe das nicht. Diese Kiste haben wir doch nicht vergraben. Wir haben Orgelpfeifen hier versteckt«, sagte sie zu den Kulis. »Pfeifen aus Kupfer. Ich habe sie eigenhändig in geölte Leinwand eingewickelt!«
    »Da sind aber keine Orgelpfeifen«, verkündete einer der Kulis. »Wollen Sie, dass wir die Kiste herausholen?«
    Die Kulis hoben die Kiste aus dem Loch und stellten sie auf festen Untergrund. Sie war ungefähr einen Meter lang und sechzig Zentimeter breit. Das Holz war mit grünem Moos überzogen.
    Alle starrten Lu See an.
    Onkel Hängebacke ging in die Hocke und legte eine Hand auf den Deckel.
    »Vorsicht!«, warnte ihn einer der Kulis. »Das könnten die Japaner gewesen sein. Vielleicht ist das eine Sprengfalle!«
    Onkel Hängebacke zog seine Hand jedoch nicht zurück. Stattdessen legte er seine andere Hand auf das hintere Ende des Deckels, schob seine Finger in die Fugen und hob den Deckel vorsichtig an.
    »Kannst du was sehen?«, fragte Mabel, die vor lauter Aufregung auf und ab hüpfte. »Was ist drin?«
    Onkel Händebacke entfernte eine Abdeckung aus Leinwand.
    Lu See schrie entsetzt auf und schirmte die Augen ihrer Tochter mit einer Hand ab.
    Unzählige Buckelfliegen erhoben sich in einer großen Wolke von dem verfaulenden Schädel. Würmer hatten die Augen des Tieres gefressen. Sein Gesicht war nicht mehr als eine grinsende Grimasse. Nur Knochen und Büschel schwarzer lockiger Wolle waren geblieben.
    Es war der abgetrennte Kopf eines Schafes.

9
    Es war die neunte Woche von Sum Sums Noviziat. Sie stand jeden Tag um Punkt fünf Uhr zum Morgengebet auf. Schneidende Kälte zwickte an ihren Zehen und Füßen, wenn sie in den Gebetsaal schlurfte und in den Chor murmelnder Gebete einstimmte. Es war ihre Aufgabe, die endlosen Reihen von Kerzen aus Yakbutter zum Gebet zu entzünden. Einen langen Wachsstock in der Hand, beugte sie sich

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