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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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Haut durchstoßen.
    Lu See zuckte zusammen, schnappte nach Luft.
    Adrians Augen waren geschlossen. Die Deckenleuchten verliehen seinen Wangen das bläuliche Weiß eines Eisbergs. Er war so bleich wie eine Wachspuppe. Sein Hinterkopf sah irgendwie deformiert, eingedrückt aus. Er musste mit großer Wucht auf den Boden aufgeschlagen sein.
    »Ist das Adrian Woo?«, fragte der Leichenbeschauer.
    Sie sah Adrian an. Seine Lippen waren trocken und rissig, mit Blut befleckt. Die Haare, auf die er immer so stolz gewesen war, sahen aus wie vom Schlaf zerzaust.
    Sie nickte.
    Ängstlich streckte Lu See die Hand aus, um ihn zu berühren. Sie wollte seine Wärme spüren. Aber da war keine Wärme mehr. Er war kalt wie ein Stück Marmor, nur noch eine leblose leere Hülle. Sie beugte sich ein Stück zu ihm hinunter. Noch haftete sein Geruch an seiner Haut.
    »Komm zurück, Adrian«, flüsterte sie unhörbar, während sie liebevoll sein Haar glatt strich. Sie drückte ihre geöffneten Lippen auf seine Haut. »Bitte, komm zu mir zurück.«
    Der Leichenbeschauer nahm das Laken und wollte Adrian wieder zudecken.
    »Bitte warten sie noch einen Moment.«
    Lu See beugte sich über ihren Mann, verharrte, die Arme um ihn gelegt. Sie wolle laut schreien, ganz laut, aber aus ihrer Kehle kam kein einziger Ton.
    Als man sie aus dem Raum führte, blieben ihre Augen auf das weiße Laken gerichtet, unter dem Adrian lag. Sie hatte das Gefühl, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.
    Sie fiel.
    Wenig später fand sich Lu See in dem breiten leeren Krankenhauskorridor wieder. Sie saß auf derselben Bank wie zuvor. Schützend schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und wartete.
    Ihre Hände begannen zu zittern. Sie kam sich so nackt vor wie ein Baum, der all seine Blätter verloren hat. Eine Stunde verging, dann noch eine. Schließlich erschien die Schwester mit einem bebrillten Mann von der Verwaltung des Krankenhauses. Er hielt ein Klemmbrett in der Hand. Nachdem er ihr Adrians Armbanduhr, seinen Ehering und die Hausschlüssel ausgehändigt hatte, wollte er wissen, ob das Krankenhaus die Beerdigungsvorbereitungen treffen und einen Sarg bestellen solle. In gedämpftem Ton fragte er sie außerdem, was mit den sterblichen Überresten geschehen solle.
    Die sterblichen Überreste.
    Der Ausdruck brannte wie eine Flamme in ihrer Brust – ein unausweichlicher Augenblick der Erkenntnis. Sie starrte die Uhr und den goldenen Ring in ihrer Hand an. Die Uhr hatte zu ticken aufgehört. Lu See würgte einmal, dann ein zweites Mal. Sie drehte sich um und übergab sich. Ihr Mageninhalt schoss aus ihr heraus wie Wasser, das man aus einem Schwamm drückt.
    Lu See durchblätterte langsam den alten ledergebundenen Wälzer ihres Vaters. Adrian hatte vor Jahren einmal etwas von Pfeilwurz gesagt.
    »Ich glaube, dein Enkel hat eine schwere Harnwegsinfektion«, sagte sie zu Matriarchin Woo.
    »Was kann man dagegen machen?«, fragte die verzweifelte Mutter.
    Lu See sah das Stichwortregister durch, blätterte von einer von Silberfischchen angenagten Seite zur nächsten, fand den Abschnitt, der mit Maranta arundinacea überschrieben war.
    »Hier steht, dass der Pfeilwurz eine Pflanze ist, die in einigen Teilen Asiens häufig vorkommt. Sie hat weiche, ovale Blätter, die bis zu dreißig Zentimeter lang werden. Schaut, hier ist ein Bild. Das malaiische Wort dafür lautet kova . Auf Kantonesisch heißt sie fun koat . Weiße Blüten. Ihre Früchte sind denen der Johannisbeere ähnlich. Sie wächst im Landesinneren, in gut durchlässigem Boden.«
    Schon wenige Augenblicke später begab sich das gesamte Haushaltspersonal, mit Lampen und Kerzen ausgerüstet, in den Wald, um die Pflanze zu suchen.
    Als sie mit einem Korb voller Rhizome zurückkehrten, wies Lu See sie an, die Wurzelstiele zu Pulver zu zermahlen und dieses mit kochendem Wasser zu vermischen, um so eine dünne Schleimsuppe zu bekommen. Dann stützte Lu See den Kopf des Jungen und flößte ihm den Sud löffelweise ein.
    Eine Stunde verstrich. Die inzwischen heruntergebrannten Kerzen wurden durch frische ersetzt. Lu See wachte über den Jungen.
    »Das Fieber geht zurück«, verkündete die Mutter des Kindes schließlich.
    Lu See trat zu ihm und suchte die Ader in seinem Handgelenk. »Der Puls ist kräftiger.« Sie sah Schweiß wie Kupfer auf seiner Stirn glänzen. »Dass er schwitzt, ist gut für ihn. So kühlt er ab. Sorgt dafür, dass er viel Wasser trinkt.«
    »Er schläft jetzt tief und fest«,

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