Das Haus der tausend Blueten
dumpf so wie bei einem blauen Fleck?«
Als er nicht reagierte, antwortete seine Mutter für ihn: »Er hat Bauchschmerzen. Außerdem hat er jede Stunde ins Bett genässt. Wir haben ihm ranzige Auberginen und Essig gegeben, aber das Fieber will einfach nicht sinken.«
Lu See beugte sich über das Kind und wischte ihm mit einem kühlen feuchten Handtuch übers Gesicht. Dann legte sie ihre Hand auf den Bauch des Jungen und strich mit der Handfläche leicht darüber. Als Nächstes legte sie ihre Finger auf die rechte Seite seines Unterleibs und übte sanften Druck aus. Der Junge bewegte sich kaum. Sie runzelte die Stirn, denn sie konnte fühlen, wie sehr der Bauch gebläht war.
»Es ist jedenfalls keine Blinddarmentzündung, in diesem Fall wäre er jetzt vor Schmerz zusammengezuckt.«
»Seine Lippen sind weiß geworden.«
»Er ist dehydriert. Gebt ihm mehr Wasser.«
Sie nahmen ein nasses Tuch und tröpfelten Wasser in seinen Mund.
Lu See blieb mehrere Minuten lang an seinem Bett sitzen. Sie war sich nicht sicher, was sie für ihn tun konnte. Sie betrachtete das bleiche Gesicht und die schmalen Schultern des kleinen Jungen und musste dabei unwillkürlich an Adrian denken.
Er muss als Achtjähriger genauso ausgesehen haben.
Zärtlich strich sie dem Kind über die Haare. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie es war, in Adrians Gesicht zu sehen, wie es war, Adrian in ihren Armen zu halten, damals, als er noch warm und lebendig gewesen war. Aber sie konnte sich einfach nicht mehr entsinnen. Die Last der Trauer hatte das ihre getan. Sie kniff die Augen zu und versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen. Ihre Hände wanderten zu einem losen Faden, der an ihrem Ärmel hing. Und wie im Reflex spulte ihr Verstand die Ereignisse von damals ab, führte sie wieder in das Addenbrooke’s Hospital mit seinen lindgrünen Wänden.
Eine Krankenschwester, die einen Wagen mit Nierenschalen vor sich her schob, ließ diesen stehen, um Lu See zu einer Bank in einem großen, leeren Korridor zu führen.
»Ich möchte meinen Mann sehen«, sagte Lu See.
Die Schwester schaute sie mit einem mitleidigen Blick an, der sagte: Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er liegt gerade auf einem Leichentisch.
Lu See setzte sich auf die schlichte, hölzerne Bank, trotz ihres dicken Mantels vor Kälte zitternd, die Ärmel ihrer Strickjacke über die Handrücken gezogen. Von Zeit zu Zeit starrte sie auf die Uhr an der Wand, aber vor ihren Augen tanzten nur schwarze Flecken, die aussahen wie die dunklen Kerne von Wassermelonen. Erst als ihr die Schwester eine Tasse Tee anbot, wurde ihr bewusst, dass inzwischen mehr als eine Stunde vergangen sein musste. Sie legte die Hände auf ihren Bauch, in dem ihr acht Wochen altes Baby heranwuchs. In diesem Moment erst wurde ihr bewusst, dass das Kind keinen Vater haben würde.
Erst am Abend zuvor hatte Adrian sein Gesicht auf ihren Bauch gelegt. Sie erinnerte sich verschwommen daran, wie er ihren Bauchnabel unter dem Kleid geküsst, sie gekitzelt und zum Lachen gebracht hatte. Und je mehr sie kicherte, desto mehr hatte er sie gekitzelt. War das gestern gewesen oder an irgendeinem anderen Abend?
Lu See spürte, wie die Panik sie zu überwältigen drohte. Sie sah sich um und hoffte, die Schwester in der weißen Tracht und mit dem gestickten roten Kreuz auf ihrem Busen würde zu ihr kommen und sich neben sie setzen. Aber sie kam nicht.
Sie wartete. Sie dachte an die Zukunft ihres ungeborenen Kindes und wartete.
Schließlich erschien der amtliche Leichenbeschauer. Er bat sie, ihn zu begleiten. Er und ein Arzt im Praktikum führten sie zu einem alten Fahrstuhl mit schmiedeeisernem Gitter, mit dem sie in ein fensterloses Kellergeschoss hinunterfuhren.
Der junge Arzt betätigte einen Lichtschalter. Als die Lampen an der Decken aufflackerten, sah sie, dass in der Mitte des Raums ein Tisch stand. Auf ihm waren die Konturen eines mit einem weißen Laken verhüllten Körpers zu erkennen. Der junge Arzt blieb für den Fall, dass sie zusammenbrach, dicht neben ihr stehen.
»Nun gut«, sagte der Leichenbeschauer in ruhigem, gefasstem Ton. »Sind sie bereit?«
Sie nickte stumm.
Er schlug das weiße Laken zurück, das Adrians leblosen Körper bedeckte, und enthüllte seine bleiche Brust und die kleinen rosa Brustwarzen, die Arme, die an seinen Seiten lagen. Das Erste, was Lu See auffiel, waren die Knochen, die aus dem Brustkorb herausragten. Sein Schlüsselbein und seine Rippen waren gebrochen und hatten die
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