Das Haus der tausend Blueten
konnte sie das nur tun – ich war doch ihr Kind!«
Sie ging in ihren perlenbestickten Pantoffeln auf und ab.
»Und warum hast du mir das alles nicht schon viel früher erzählt? Und behaupte jetzt nicht, dass du das ja gern getan hättest, aber dass es besser für mich gewesen sei, es nicht zu wissen!«
»Glaubst du denn, ich hätte nicht tausendmal überlegt, es dir zu sagen? Ich habe in den letzten neunzehn Jahren jeden einzelnen Tag darüber nachgedacht!«
Mabel wischte Lu Sees Einwand mit einer wilden Armbewegung beiseite. »Wer weiß es sonst noch?«
»Onkel Hängebacke und deine Großmutter.«
Mabel drehte sich plötzlich um, nahm eine Gabel aus der Besteckschublade und stach sich damit in den Handrücken.
»Was machst du da? Du tust dir doch weh!«
»Ich will nur wissen, ob das hier nicht vielleicht doch nur ein böser Traum ist!«
Sie warf die Gabel wieder in die Schublade.
»Ich war dabei, als du auf die Welt kamst«, setzte Lu See zu ihrer Verteidigung an. »Ich habe dich gefüttert, dich in meinen Armen gewiegt, dich gebadet. Ich habe dich durch die Schulzeit begleitet. Habe dafür gesorgt, dass es dir an nichts fehlt. Wer glaubst du, hat die Münzen unter dein Kopfkissen gelegt, als du deinen ersten Zahn verloren hast? Wer hat dir gezeigt, wie man Fahrrad fährt oder Schnürsenkel bindet? Wer hat dir beigebracht, bis hundert zu zählen? Ich habe dich gelehrt, was richtig und was falsch ist! Ich habe Cambridge verlassen, darauf verzichtet, die Aufnahmeprüfung abzulegen, nur damit ich mit dir in meinen Armen nach Malaysia zurückkehren konnte. Ich habe seitdem alles für dich getan …«
»Es geht hier aber nicht um dich!«, unterbrach Mabel sie. »Es ist mein Leben, das gerade auf den Kopf gestellt wurde!«
»Wer hat dich während des Krieges vor den Japanern beschützt? Wer hat, als es nichts zu essen gab, seine Ringe und Halsketten versetzt, nur damit du eine Orange oder ein Päckchen Kekse bekommst?«
Mabel wandte den Blick ab. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum.
»Es tut mir leid«, flüsterte Lu See. Sie war mit den Nerven am Ende. »Ich hätte dir schon viel früher von Sum Sum erzählen sollen, aber …«
»Aber was?«
»Ich hatte schreckliche Angst davor, dich zu verlieren! Als ich damals Malaysia verließ, als ich von zu Hause fortgelaufen bin, habe ich alle familiären Verpflichtungen einfach hinter mir gelassen. Aber dann wurdest du geboren, und plötzlich hatte ich wieder eine Aufgabe.« Sie faltete ihre Hände. »Du warst in so vielerlei Hinsicht ein Segen.«
»Hat sie sich um mich gekümmert?«, fragte Mabel herausfordernd. »Hat sie … hat sie mich gestillt, mich in den Schlaf gesungen? Hat sie mir rosa Schleifen ins Haar gebunden? Oder war ich schon immer unerwünscht?«
»Du warst niemals unerwünscht!«
»Ach, wirklich?! Dann hat sie mich also weggegeben, weil sie mich so sehr geliebt hat!«
»Nein, weil sie mich so sehr geliebt hat.«
Lu See erhob sich von ihrem Stuhl und ging zum Ofen hinüber. Sie füllte den Kessel mit Wasser, stellte ihn auf die Flamme und gab Teeblätter in eine Kanne. Dann griff sie unter die Spüle und holte die Flasche Dewar’s Whisky hervor, schraubte die Kappe ab und nahm zwei große Schlucke.
Mabels Augen waren jetzt gerötet und feucht.
»Ich will sie sehen.«
»Das geht nicht … die Grenzen zu Tibet sind geschlossen.«
Lu Sees Stimme erstarb, als Mabel sich umdrehte und ohne ein weiteres Wort die Treppe hinaufstampfte. Lu See hörte eine Tür zuschlagen, das Geräusch eines Riegels, der vorgeschoben wurde, gefolgt von einem Schrei, der sich wie der eines wütenden Vogels anhörte. Allein in der Küche, lauschte Lu See, wie ihre Tochter in ihrem Zimmer herumpolterte, hörte, wie die Dunkelheit sich ihrer bemächtigte.
»Was habe ich nur getan?«, flüsterte sie.
Schließlich wurde es still, und in ebendieser Stille spürte Lu See, wie in ihrem Inneren etwas zerriss, so wie eine Gitarrensaite, die neunzehn Jahre lang zu fest gespannt gewesen war.
»Noch einen teh tarik !«
Lu See fuhr aus ihrem Tagtraum hoch. Sie fand sich, die Kappe des Füllers in der Hand, am Tresen in ihrem Restaurant wieder. Sie sagte Dungeonboy, dass er sich um Fishlips Foo kümmern solle, und fragte sich dann unwillkürlich, ob in ebendiesem Moment gerade auf Mabel geschossen wurde, oder schlimmer noch, ob sie in einem flachen Graben lag und verblutete.
Um Himmels willen, Mabel! Warum tust du mir das nur an? Dabei habe ich dir doch stets gesagt, dass
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