Das Haus der tausend Blueten
Mädchen in der Schule aussah, hatte ich auch keinerlei Verdacht. Als es mir dann auffiel, habe ich mich gefragt, was wohl der Grund dafür sei. Aber ich habe nie gewagt, dich darauf anzusprechen. Jetzt aber will ich die Wahrheit wissen!«
Lu See hatte die Worte ihrer Tochter zuerst einmal verarbeiten müssen. Sie hatte kurz die Augen geschlossen.
»Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«
»Mabel«, hatte Lu See geflüstert, »bitte setz dich.«
Sie hatte am Küchentisch Platz genommen. Lu See hatte sich neben sie gesetzt und ihre Hand genommen.
»Vor langer Zeit habe ich mir selbst das Versprechen gegeben, dass du eines Tages die Wahrheit über dein Leben erfahren wirst … ich habe mir geschworen, dass ich dir eines Tages alles sagen würde.«
»Die Wahrheit über mein Leben?«, wiederholte Mabel fassungslos. »Wovon sprichst du eigentlich?«
Lu See strich ihrer Tochter über die Haare. »Bitte, hör mir einfach nur zu.«
Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Papiertaschentuch und begann dann mit unsicherer Stimme zu reden.
»Es gibt da eine Frau in Tibet. Ihr Name ist Sum Sum. Sie ist eine sehr gute Freundin von mir, genau genommen ist sie fast wie eine Schwester für mich, und vielleicht sogar mehr als das … Sie hat mich damals, vor vielen Jahren, nach England, nach Cambridge, begleitet. Dorthin, wo du geboren wurdest.«
Sie hielt inne, frustriert darüber, dass die Worte, die aus ihrem Mund kamen, sich vollkommen falsch anhörten.
»Was ich dir gleich sagen werde, hat keinerlei Einfluss auf meine Gefühle dir gegenüber. Ich liebe dich, Mabel. Ich wollte dir niemals wehtun. Manchmal aber behalten wir ein Geheimnis für uns, um diejenigen, die wir lieben, zu schützen. Du bist meine Tochter.«
In ihren Augen standen jetzt Tränen. Sie faltete die Hände wie zum Gebet.
»Du wirst immer mein kleines Mädchen sein.«
Mabel stand auf und machte einen Schritt rückwärts, fasste sich mit beiden Händen an den Mund.
»Wovon sprichst du überhaupt?«
»Die Sache ist die, Mabel, mein Schatz, Sum Sum hat dich bei mir zurückgelassen, als du erst wenige Wochen alt warst. Das war kurz nachdem Adrian gestorben war.« Ihre Stimme zitterte. »Nach dem Tod meines Mannes hatte ich eine Fehlgeburt. Ich befand mich damals in einer schrecklichen Verfassung. Ich hatte innerhalb weniger Wochen meinen Mann und mein Baby verloren. Ich war völlig verzweifelt. Sum Sum wusste, was mir helfen würde. Sie wusste, dass du mich retten würdest.«
Als Lu See wenige Wochen nach Adrians Tod ihr Kind verloren hatte, waren ihre seelischen Qualen wie ein Orkan über ihr zusammengebrochen. In ihren dunkelsten Stunden hatte sie gefürchtet, ihre Psyche hätte einen irreparablen Schaden genommen. Oft hatte sie sich gefragt, was geschehen wäre, wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, sich um Mabel zu kümmern. Wenn da nur der Kummer und die Trauer gewesen wären, die ihre Seele erfüllt hätten. Hätte sie den Verstand verloren? Hätte sie irgendetwas Dummes getan? Hätte sie sich vielleicht sogar das Leben genommen? Die Antwort hatte wesentlich öfter ja als nein gelautet.
Und genau das hatte Sum Sum gewusst.
Lu See hatte das Geheimnis so lange bewahrt, hatte es versteckt, wie ein schönes Mädchen unter einem langen Ärmel eine hässliche Narbe am Arm verbirgt. Als sie jetzt mit hängenden Schultern vor Mabel saß, hatte sie das Gefühl, als würde man sie zur Schlachtbank führen. Sie sah Mabel in die Augen und wünschte sich, sie könnte irgendetwas sagen, das sie trösten würde.
»Du sagst also, dass alles eine Lüge ist! Dass du alles, was mich betrifft, erfunden hast!«
»Nein, natürlich nicht!«
»Ich musste ohne Vater aufwachsen. Und jetzt auch noch das! Hast du eigentlich die geringste Ahnung, wie ich mich damals in der Schule gefühlt habe, weil ich keinen Vater hatte?! Alle Mädchen fragten: Was macht dein Papa, und was macht deiner? Weißt du, was ich ihnen erzählt habe? Ich habe gesagt, dass er Kapitän eines Schiffes ist und die sieben Weltmeere befährt. Das sei auch der Grund, weshalb er nie zu Hause sei. Und jetzt sagst du mir auch noch das!«
Völlig verzweifelt starrte sie ihre Hände an, ihre hellbraune Haut, ihre kurzen Finger, so als sähe sie sie zum ersten Mal.
»Dann lebt meine Mutter, meine biologische Mutter, also in Tibet?«
Lu See blinzelte. Ein stummes Ja.
Mabels Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Warum?« Ein unbändiger Zorn erfüllte sie. »Warum hat sie mich einfach weggegeben? Wie
Weitere Kostenlose Bücher