Das Haus der tausend Blueten
achtundvierzig Stunden hatte sie erschöpft, und sie war völlig ausgehungert. Aber das war sie eigentlich immer. Ihre letzte Mahlzeit am Nachmittag des vorangegangenen Tages hatte aus einer Schale gebratener Grashüpfer, klein geschnittenen grünen Bananen und einem daumennagelgroßen Klecks Reis bestanden. Sie konnte sich jedoch nicht überwinden, das Tier zu essen, von dem sie beinahe selbst gefressen worden wäre. Abgesehen von den Früchten, die von den Bäumen fielen, hatten sie so wenig zu essen, dass sie auf den Reis angewiesen waren, den die Dorfbewohner in Fahrradschläuchen oder ausgehöhlten Ananas zu ihnen schmuggelten. Dank der hundertfünfzig Pfund Pythonfleisch befand sich das ganze Lager jetzt in Hochstimmung.
»Du musst dich ausruhen«, beharrte Bong.
»Nein«, sagte sie entschieden. »Ich möchte auf jeden Fall in Bewegung bleiben. Was kann ich tun?«
»Wir brechen erst morgen wieder auf. Wenn du willst, kannst du uns dabei helfen, die Umgrenzung des Lagers zu sichern.« Er sah sie forschend an. »Bist du dir sicher, dass du dazu in der Lage bist?«
»Ich bin mir sicher.«
Die Männer hoben mehrere mit Blattwerk getarnte Fallgruben aus. Derjenige, der in eine dieser Gruben hineinfiel, wurde von Bambusstöcken aufgespießt. Mabel benutzte Bongs parang , um die Enden der Bambusstäbe anzuspitzen. Sie hatte fast eine Stunde gearbeitet und war gerade damit fertig geworden, einen sogenannten Nachtigallenboden um das Lager herum anzulegen – der Untergrund wurde dabei mit trockenen attap -Wedeln bedeckt, die knackten und knisterten, wenn man darauf trat –, als sie plötzlich spürte, wie ihr ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief. Sie fuhr herum, um zu sehen, wer sich von hinten an sie heranschlich, aber da war niemand. Im Geiste sah sie noch einmal die leuchtend gelben Augen der Schlange aufblitzten, und sofort kam ihr die Pontianak in den Sinn. Sie versuchte, das als dummen Aberglauben abzutun. Aber während es jetzt rasch dunkel wurde, musste Mabel unwillkürlich an die Geschichten vom Geisterwald denken und an all die Dinge, die man ihr als Kind von der Unterwelt erzählt hatte. Es hieß, dass die Abenddämmerung die Tageszeit war, zu der die bösen Geister kamen und nach einsamen Seelen suchten, von denen sie Besitz ergreifen konnten.
Als sie zum Lager zurückkehrten, blies ein kräftiger Wind. Die Bäume ächzten und stöhnten. Es waren große und mächtige Gewächse, so hoch, dass jede Frucht, die zu Boden fiel, beim Aufprall zerplatzte. Im trüben Licht der Dämme rung untersuchte Mabel den Verband an ihrem noch immer schmerzenden rechten Arm und auch die kleine Wunde an ihrem linken Ellbogen, dort wo sie sich an einem Dorn gerissen hatte. Das feuchte Klima ließ die Haut aufquellen, sodass sie weich wurde und dadurch leichter zu verletzen war. Blutvergiftungen und Entzündungen waren somit eine ständige Gefahr. Zum Glück sahen die Wunden gut aus. Mabel blickte zum rasch dunkler werdenden Himmel hinauf. Schon bald würde er so schwarz wie der Kessel einer Hexe sein. Überall um sie herum saßen Männer, die sich ihre bandagierten Arme und Beine hielten. Sie scharten sich um das offene Feuer und warteten darauf, dass das Wasser im tönernen Topf zu kochen begann.
Sie richtete sich für die Nacht auf einem Haufen von der Sonne aufgeheizter warmer Blätter unter einer Pyramide aus Palmwedeln ein. Dann nahm sie ihre Sanitätstasche von ihrem Rücken und leerte deren Inhalt aus. Im Licht einer Dammarfackel legte sie die Dinge aus, die sich darin befunden hatten: ein Messer mit Scheide, Nadel und Faden, ein Röhrchen mit Antibiotikatabletten, zwei Fläschchen Merobromin, eine Flasche Trinkwasser, drei von außen verschmutzte Päckchen mit antiseptischem Puder, ein Dutzend Röhrchen mit Morphium, Baumwollstreifen für Bandagen, Spritzen, eine Rolle Heftpflaster, eine Dose Sulphanilamid-Tabletten und eine sepiafarbene Fotografie von Teoh Lu See, wie sie vor dem Eingang ihres Restaurants in der Stadt stand, lächelnd, fröhlich in die Kamera winkend, ihre Hand mit den langen Fingern blass und elegant.
Mabel betrachtete ihre eigenen Hände. Sie waren breit, die Finger waren kurz. Auch ihre Nägel waren kurz – bis zu den Monden hinunter gesplittert und mit schwarzem Schlamm verkrustet. Als Kind hatte sie sich oft gewundert, warum sie Lu See so gar nicht ähnelte. Sie hatte Onkel Hängebacke gefragt. Warum ist Mama so groß und hellhäutig, und ich bin so klein und dunkel? Natürlich
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