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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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zuzusehen, die gerade ihr Können zur Schau stellten. Eine der Disziplinen bestand dabei darin, mit Pfeil und Bogen im vollen Galopp auf eine bunte Stange zu schießen. Während die Frühlingssonne ihre Kopfhaut wärmte, staunte Sum Sum gemeinsam mit allen anderen, als die Reiter vorbeidonnerten. Sie genoss den Anblick der eleganten Sportlichkeit und klatschte Beifall, wenn eine Pfeilspitze ihr Ziel fand. Inmitten dieser ständigen Betriebsamkeit verbrannten Pilger grüne Zypressenzweige und drehten ihre Gebetsmühlen.
    Später gingen sie und Tormam zu den Reitern hinüber, die noch immer ihre Fuchspelzmützen trugen und gerade ihre Hengste mit Gerstenstroh fütterten, um sie um Almosen für das Kloster zu bitten. Nicht weit von ihnen entfernt sahen sie mehrere Gruppen von Mönchen, junge und alte, in ihren roten Gewändern, die sich zum ritualisierten Streitgespräch versammelt hatten. Die jungen Mönche saßen auf dem harten Boden, während ihnen jeweils ein älterer Mönch gegenübertrat. Alle paar Sekunden stürmte einer der älteren, mit den Armen wild fuchtelnd und in die Hände klatschend, auf seine Zöglinge zu, um sie mit schwierigen Fragen zur buddhistischen Lehre zu bombardieren. Die älteren Mönche machten einen verbalen Ausfallschritt nach dem anderen, die jüngeren parierten, und schon bald erfüllte ein scharfes Stimmengewirr die trockene Luft, während die Wortgefechte heftiger und lauter wurden.
    Im Hintergrund brannten mehrere offene Feuer. Dort saßen die Menschen auf kleinen blauen tibetischen Teppichen und wärmten sich an den Flammen. Sie aßen Yak-Klößchen und frittiertes Fladenbrot und teilten die Speisen mit ihren Nachbarn. Sum Sum stiegen noch mehr köstliche Essensdüfte in die Nase. Sie sah das glänzende Fleisch der am Spieß gebratenen Hammel, das Wildbret, die Schenkel von Hirschen und Ziegen und das Rindfleisch, das sich an langen Metallspießen drehte, während der Fleischsaft in die Flammen tropfte. Die durch die Luft ziehenden Düfte erinner ten Sum Sum an Cambridge, an die Maiwoche, wenn auf den Rasenflächen von Trinity und St. John’s ganze Ochsen, de ren Rippen wie die Spanten eines Bootes aussahen, gebraten wurden. Ob sie es wollte oder nicht, ihr lief einfach das Wasser im Munde zusammen.
    Unzählige Krähen hüpften krächzend umher, wagten sich immer näher ans Feuer heran. Ihre Rufe wurden lauter, als ein paar Jungen sie mit Steinen bewarfen.
    Zur Mittagszeit, als die Sonne scharf wie die Klinge eines Messers im Zenit stand, waren Sum Sums Mund, Kehle und Nase völlig ausgedörrt. Ein vom Wind zerzauster Seidenhändler bot ihnen Buttertee an, den sie aus hölzernen Schalen tranken. Während Sum Sum ihren Tee trank, blickte sie über den Rand ihrer Schale und sah, wie sich auf der Tee- und Pferdestraße am Horizont entlang Stecknadelköpfe bewegten. Eine Staubwolke zog an den steinigen Felskämmen entlang. Glänzende kohlschwarze Punkte vor dem hellen Hintergrund des Graslands, die mit jeder Sekunde größer wurden. Sie breiteten sich wie dunkle Flecken auf der Ebene aus. Binnen weniger Minuten trafen mehrere Dutzend chinesische Soldaten zu Pferd ein, gierige Männer mit ledriger Haut und finsterer Miene, die blaue Schatten auf den Festplatz warfen.
    »Gesichter, so scharf und hässlich, dass sich der Wind daran bricht«, bemerkte Sum Sum.
    Sie zerrten eine Frau von ihrem Yak. Ihr Schrei war so schrill wie ein falscher Ton auf einer Violine.
    Ein Offizier mit einem Bratpfannengesicht verkündete großspurig etwas im kehligen Dialekt des Nordens, fuchtelte dabei wild mit den Händen in der Luft herum. Dann schlug er mit einer Hand gegen sein Gewehr, seine Augen sahen dabei aus wie die eines Schweineschlachters.
    Als er ausspuckte und einen stumpfgrünen Schleimfleck auf dem Boden hinterließ, wusste Sum Sum, dass das Fest vorbei war.
    Als Sum Sum und Tormam ins Kloster zurückkehrten, wurden sie bereits von der Gebetshallenleiterin empfangen.
    » Ay-yi! Sie haben unser Land geraubt!«, schimpfte die alte Nonne, nachdem sie ihr berichtet hatten, was sich zugetragen hatte. »Und wisst ihr auch, wie sie das gemacht haben? Sie haben eine tibetische Delegation in Peking unter Androhung des Todes gezwungen, eine siebzehn Punkte umfassende Erklärung zu unterzeichnen, durch die China die Kontrolle über Tibet übergeben wurde. Die Minister in Lhasa haben sich in Peking beschwert und gesagt, dass dieser Vertrag ungültig sei, weil er unter Zwang unterschrieben wurde und weil

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