Das Haus der tausend Blueten
ging sie zu ihrem Badezimmerschränkchen, um etwas Tigerbalsam für ihre Stirn und das Fläschchen Magnesiamilch für ihren Magen herauszunehmen.
Sie kam an ihrer Schlafzimmertür vorbei und sah die dicken weißen Kopfkissen, die sich hinter dem Moskitonetz türmten. Die Neuigkeiten, die sie von Pietro erfahren hatte, und die Angst um Mabel hatten sie in eine Art Schockzustand versetzt. Jetzt war sie unglaublich müde und erschöpft. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kissen. Wie warme Brötchen, die in einem Korb liegen, dachte sie. In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als ins Bett zu sinken und zu schlafen. Kaum hatte sie jedoch die mentholhaltige Salbe auf ihre Schläfen aufgetragen, hörte sie unten am Eisengitter ein gedämpftes Klopfen.
»O Gott! Nicht schon wieder. Müssen diese Italiener denn nicht auch irgendwann ins Bett?«
In der Erwartung, den schwarzen Fiat auf der Straße stehen zu sehen, blickte sie aus dem Fenster und wollte schon rufen: »Geh nach Hause, Pietro. Ich komme schon klar.«
Aber auf der Straße war kein Auto zu sehen.
Als sie wieder das leise Hämmern gegen das Eisengitter hörte, begann sie, wie ein malakkischer Seemann zu fluchen.
Dungeonboy kam keuchend angerannt. »Jemand an Tür, Missie – jemand klein und wie schwarze Schatten«, berichtete er aufgeregt.
Sie ging die Treppe hinunter, um die metallenen Rollläden hochzuziehen. »Wahrscheinlich ist es Mr Pietro.« Sie bat Dungeonboy, einen Stock zu holen, nur für den Fall, dass es sich doch um einen Einbrecher handelte.
»Was wollen Sie?«, rief sie. Dann packte sie, von einer plötzlichen Vorahnung erfüllt, das Gitter mit beiden Händen und schob es mit einem Ruck nach oben.
Das Metall klapperte.
Eine junge, entsetzlich dürre Frau stand mit gesenktem Kopf vor ihr. Sie verströmte den Geruch des Dschungels. Ihr Gesicht war völlig verdreckt. Erde hing in ihren Haarspitzen. Den rechten Arm trug sie in einer provisorischen Schlinge.
Lu See stockte der Atem. Sie öffnete stumm den Mund, streckte die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen.
»O mein Gott«, japste sie. »Mabel.«
9
Seit die Chinesen den Jinsha-Fluss überquert und in Tibet einmarschiert waren, waren inzwischen acht Jahre vergangen. Sieben dieser Jahre waren die Klöster unbehelligt geblieben. Es wurden weder Tempel geplündert noch gab es Angriffe auf Mönche oder Versuche, die tibetische Religion zu unterdrücken.
Dann aber, eines Nachmittags im Frühling 1958, änderte sich all das.
Es war der Tag des Pferdefestes. Viele Hundert Menschen, darunter auch Nonnen und Mönche, strömten auf dem Grasland zusammen, um zu feiern. Sum Sum und Tormam waren im Morgengrauen aufgebrochen. Sie hatten drei Stunden gebraucht, um den Festplatz zu erreichen. Während sie die Pfade an den Berghängen entlanggingen, goss ein kristallener Sonnenschein goldenes Licht über das Plateau und die umherstreifenden Schafe, die an dem frischen grünen Gras knabberten. Als sie das Grasland erreichten, herrschte dort bereits ein munteres Treiben.
Gelbe und blaue Zelte, die man schon vor einigen Tagen aufgestellt hatte, waren über die Ebene verteilt. Über die verschneiten Pässe kamen Karawanen mit Packpferden und Eseln, die mit Teeziegeln und großen Salzbrocken beladen waren. Viele Pilger, in der Regel Gläubige aus Nepal und Sikkim, überquerten die Ebene und opferten hier den Berggöttern fünffarbige Sutrafahnen und Weihrauch, während sich Kaufleute, Nomaden und Hausierer in Scharen einfanden, um Geschäfte zu machen. Lederhändler waren aus der Mongolei gekommen. Chinesen, die Gold, Türkis, Borax und Moschus anboten, bauten auf dem provisorisch errichteten Markt ihre hölzernen Buden auf. Ein mandschurischer Seidenhändler legte mehrere farbenprächtige Ballen Stoff aus, während die Reishändler aus Bhutan lautstark mit den Bauern feilschten. Ein Stück weiter begrüßte ein muslimischer Gewürzhändler gerade einen indischen Indigoverkäufer, dessen Zähne in seinem braunen Gesicht weiß leuchteten, mit einem Salam. Überall machten die Menschen Geschäfte.
Es wurden Wettkämpfe im Bogenschießen und im Ringen veranstaltet. Die Männer balancierten auf Seilen und vollführten Saltos. Die einheimischen Frauen, die ihre Haare zu Zöpfen geflochten hatten, stiegen auf ihre Yaks, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben. Viele von ihnen hatten ihre Babys auf den Rücken gebunden. Sum Sum und Tormam gesellten sich zu ihnen, um den Reitern
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