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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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dass Sie eine Krankheit haben, für die es kein Heilmittel gibt.«
    Lu See schluckte. »Ist es ernst?«
    »Normalerweise wird Morbus Crohn als nicht lebensbedrohlich angesehen.« Der Arzt nahm seine Brille ab und massierte seine Nase, dort wo die Klammer einen Abdruck auf der Haut hinterlassen hatte. »Sie aber haben zweimal Blut erbrochen. Also muss man wohl sagen, dass es in Ihrem Fall durchaus ernst ist.«
    »Gibt es irgendwelche Tabletten, die ich dagegen einnehmen kann? Können Sie die Geschwüre entfernen?«
    »Die Krankheit ist schwierig zu diagnostizieren, weil sich die Symptome verzögert einstellen. Um absolut sicher zu sein, muss ich Sie bitten, zu einer Bariumsulfat-Röntgenaufnahme ins Krankenhaus zu kommen. Nein, bitte, liebe gnädige Frau, sehen Sie mich nicht so beunruhigt an. Das hört sich gefährlicher an, als es ist. Zerbrechen Sie sich deshalb nicht den Kopf. Sie trinken einfach eine Mischung aus Bariumsulfat, Gerbsäure und Gelatine, und dann röntgen wir Sie. Diese Lösung dient als Kontrastmittel, das bedeutet, dass sie auf den Röntgenbildern weiß erscheint.«
    Lu See saß schweigend da.
    »Hatten Sie in Ihrem Leben viel Stress?«
    »Nun, lassen Sie es mich so sagen: Mein Mann starb wenige Monate nach unserer Hochzeit. Ich hatte eine Fehlgeburt. Mein Zuhause wurde von den Japanern in Beschlag genommen. Mein Vater hat sich in den Kopf geschossen. Meine Tochter hat monatelang im Dschungel gekämpft.« Sie hielt inne. »Ich bin sicher, mir würde da noch so einiges einfallen.«
    Er sah sie mit ernstem Blick an und nickte.
    »Doktor, sagen Sie mir bitte die Wahrheit. Wie viel Zeit habe ich noch?«
    Er holte tief Luft. Diesmal war er es, der zur Decke hinaufsah. »Es wäre nicht professionell, eine solche Prognose abzugeben.«
    »Ich frage Sie um meiner Tochter willen. Wie lange noch?«
    »Wenn Sie Glück haben, zehn, zwanzig, vielleicht sogar dreißig Jahre.«
    »Und wenn ich kein Glück habe?«
    »Sie meinen, wenn Sie weiter Blut erbrechen?«
    »Ja.«
    »Zwölf bis fünfzehn Monate.«
    Erst draußen auf dem Bürgersteig erlaubte sie der Angst, von ihrem Körper Besitz zu ergreifen. Als sie auf die andere Straßenseite zu der Rikscha ging, die sie herbeigewunken hatte, drohten ihr die Beine wegzuknicken. Sie schaffte es gerade noch auf den Sitz des wartenden Gefährts.

13
    Sum Sum stapfte entschlossen voraus. Sie stemmte sich, den Kopf gesenkt, gegen den Wind, der sich auf ihrem Gesicht anfühlte wie Schmirgelpapier. »Es ist nicht mehr weit«, murmelte sie immer wieder leise vor sich hin, um nicht den Mut zu verlieren.
    Sie ging weiter, widerstand dem kalten schneidenden Wind. Die Augen hatte sie dabei fest auf den jeweils nächsten Platz geheftet, an dem sie rasten konnten – ein paar Bäume oder eine Ansammlung zerklüfteter Felsen in der Ferne. Geh weiter! Geh weiter! Sum Sum wiederholte diesen Befehl bei jedem Schritt, zwang ihre Beine unbarmherzig vorwärts.
    Sie hatte den absoluten Willen zu überleben.
    Stundenlang gingen sie schweigend hintereinander her, schweigend vor allem deshalb, weil sie sich wegen des lauten Windes ohnehin nicht verstanden hätten. Als Schutz gegen die grelle Sonne und um einer Schneeblindheit vorzubeugen, hatten sie sich dünne Tücher über die Augen gebunden. Gelegentlich lächelten sie sich an und schöpften dabei aus der Entschlossenheit der anderen Kraft.
    Sie kämpften sich durch Kälte und Schneeschauer, bis Tormam schließlich auf die Knie sank. »Ich kann nicht mehr!«
    Eine Weile vorher hatte Sum Sum geglaubt, Stimmen zu hören. Sie war sich nicht sicher, ob ihnen die Chinesen bereits dicht auf den Fersen waren. Sie stellte sich vor, wie der Offizier, der lachte wie Pirat Blackbeard, sein Holster aufschnallte, die Pistole zog und sie erschoss.
    »Steh auf!«, rief Sum Sum. »Erinnerst du dich noch an den Yak, der zurückgelassen wurde? Ich werde es mit dir genauso machen. Ich werde dich einfach hier zurücklassen!«
    Sie zog ihre Freundin auf die Füße. Um herauszufinden, wie viele Stunden Tageslicht ihnen noch blieb, hielt Sum Sum ihre Hand so zum Himmel, dass sie sich zwischen der Sonne und dem Horizont befand. Jeder Finger zwischen dem unteren Rand der Sonne und dem Horizont bedeutete 15 Minuten. Sie zählte acht Finger. »Es wird nur noch zwei Stunden hell sein.«
    Mit brennenden Muskeln marschierten sie weiter, starrten dabei mit leerem Blick auf den Teppich aus Schnee, der sich vor ihnen ausbreitete, versuchten, ihren Schwerpunkt so niedrig

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