Das Haus der tausend Blueten
angewidert den Mund. »Hat wie flüssige Kreide geschmeckt.«
Jetzt war es Mabel, die ihrer Mutter die Hand drückte.
Lu Sees Name wurde von der Röntgenassistentin aufgerufen. Sie betrat einen kleinen fensterlosen Raum und legte sich auf eine Liege. Man bat sie, sich zuerst auf die linke Seite zu drehen und sich nicht zu bewegen, dann auf die rechte. Der Raum wurde von einem lauten Brummen erfüllt. Es wurden anscheinend mehrere Röntgenaufnahmen gemacht.
Ein wenig später bat Dr. Ralph Lu See und Mabel in sein Sprechzimmer. Seine auch sonst sehr ruhige Stimme senkte sich noch um eine Oktave.
»Es ist genau so, wie ich es vermutet habe. Allerdings ist die Erkrankung weiter fortgeschritten, als ich befürchtete.«
Seine Worte fühlten sich in Lu Sees Brust wie kleine Explosionen an.
Er atmete tief durch die Nase ein und tupfte sich dann mit einem Taschentuch das Kinn ab.
»Wie sieht die Behandlung aus?«, fragte Lu See.
Dr. Ralph versuchte zuversichtlich und beruhigend zu klingen. »Zunächst bekommen Sie Antibiotika verschrieben, um jegliche Infektion bereits im Keim zu unterbinden. Dann werden wir Ihnen entzündungshemmende Medikamente verabreichen. Falls wir damit keinen Erfolg haben sollten, werden wir den chirurgischen Weg beschreiten müssen, um Fisteln und andere Verwachsungen zu entfernen.«
Mabel legte die Hand auf den Arm ihrer Mutter.
Lu See biss die Zähne zusammen. Sie beugte sich nach vorn, stützte sich mit beiden Ellbogen auf die Knie. »Und diese Sache, die ich habe, diesen … diesen …«
»Morbus Crohn.«
»Die ist nicht heilbar?«
»Wir können die Krankheit behandeln.« Er zog eine Akte zu sich heran. »Und wir können die weitere Ausbreitung der Entzündung eindämmen. Aber Sie werden immer wieder unter Symptomen leiden. Die Entzündungen werden weiterhin in verschiedenen Teilen Ihres Verdauungstrakts aufflammen. Oftmals werden sie mit der Zeit auch aggressiver.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich wünschte, die Medizin könnte mehr für Sie tun.«
Lu Sees ganzer Körper wurde plötzlich vollkommen ruhig. Sie schwieg.
»Ist eine Ernährungsumstellung anzuraten?«, fragte Mabel.
»Nun, Fischöl und Eier können sich vorteilhaft auswirken.«
»Wie sieht es mit alternativer Medizin aus?«, fragte Lu See. »Was ist mit Akupunktur oder pflanzlichen Heilmitteln?«
Der Arzt verzog das Gesicht. »Bitte zerbrechen Sie sich über solche Dinge nicht den Kopf. In Ihrem Fall stellen Antibiotika die beste …«
Lu See ließ ihn nicht ausreden. »Es muss noch einen anderen Weg geben.«
Dr. Ralph runzelte jetzt so sehr die Stirn, dass sie aussah wie ein gepflügter Acker.
»Im Himalaja gibt es Heiler.« Lu See richtete sich kerzengerade in ihrem Stuhl auf. »Die Tibeter entwickeln schon seit mehr als zweitausend Jahren ganzheitliche Heilungsverfahren.«
»Bitte, verzeihen Sie mir, liebe gnädige Frau. Aber ich bin der Ansicht, dass die ganzheitliche Medizin oft mehr schadet, als sie nützt. Gerade bei dieser Krankheit stellt die westliche Medizin die einzig sinnvolle Methode dar.«
»Ich will nach Tibet«, beharrte sie. Es gelang ihr einfach nicht mehr, ihre Frustration zurückzuhalten.
»Und was hoffen Sie dort zu finden?«
»Eine Antwort!«
Dr. Ralph sah sie mit trauriger Miene an. Seine Augen blickten sanft und mitfühlend. Sie sagten ihr: Ich empfinde tiefes Mitleid mit Ihnen, aber bitte tun Sie das nicht. Klammern Sie sich nicht an diesen Strohhalm.
Lu See erhob sich langsam von ihrem Stuhl. Sie bedankte sich und verließ dann den Raum. Ihr Mund war trocken, als sie leise die Tür hinter sich schloss.
Von der Klinik aus fuhr Lu See mit dem Taxi direkt zur Chinesischen Botschaft. Sie ging durch eine Drehtür und betrat die Empfangshalle. Überrascht stellte sie fest, dass der Raum menschenleer war. Das hallenartige weiße Foyer erinnerte sie an ein Mausoleum. An den Wänden waren stabile rechteckige Bänke angebracht, die die Form von Kindersärgen hatten. Ein riesiges Porträt von Mao Tse-tung starrte wie ein gütiger Gott mit einer Warze am Kinn auf sie herab.
Lu See entdeckte das Fenster eines Schalters, der sich am anderen Ende des Foyers befand. Sie ging die endlos lang erscheinende Strecke bis zur anderen Seite des Raums.
Die junge Chinesin hinter dem Fenster hatte eine fettige Ponyfrisur. Sie feilte sich die Nägel und blickte nicht einmal auf, als Lu See sich räusperte.
»Ja? Kannick was fur Sie tun?«
»Ich möchte eine Besuchserlaubnis für Tibet
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