Das Haus der tausend Blueten
zurück. Sie befahl ihren Beinen, sich weiter zu bewegen, links-rechts, links-rechts, neunundsiebzig, achtzig, links-rechts, links …
Andere Erinnerungen: eine Stadt in England; die King’s Parade; die Backs; Bäume in frischem Grün an der Jesus Lane; die Fitzbillies-Bäckerei; College-Ruder an den Wänden eines Pubs; Krokusse, die an der Parker’s Piece spießten; die Küche im Christ’s; Pietros Lachen; ihr kleines Mädchen, das sie zum ersten Mal in den Armen hielt.
Stunden. Stunden kamen. Stunden gingen.
Ihre Beine waren steif und schwer.
Ihre Lippen und Wangen waren vor Kälte starr. Sie musste ein paar Mal ihren Kiefer bewegen, damit die Muskeln in ihrem Gesicht wieder beweglich wurden. Sie sah sich nach Tormam um.
Sie sah die Spur, die ihre eigenen Schritte hinterlassen hatten, und wurde von unbeschreiblicher Panik ergriffen.
Tormam war nicht mehr da.
16
Die Kulis schoben Handkarren, die mit Anti-Malaria-Öl beladen waren, vor sich her. Sie suchten die Bushäuschen und die Erholungsareale auf und pumpten ganze Wolken von Sprühnebel in die Luft. Die Moskito-Männer zwängten sich in Abzugsgräben, kämpften sich in schwer zugängliche Örtlichkeiten vor und richteten dort die Auslassdüsen ihrer Sprühpistolen in alle Winkel und Ecken.
Begleitet vom ständigen kss-kss-kss der Sprühkanonen draußen auf der Straße stieg Lu See in ihrem Restaurant mit einigen Dosen Eagle-Brand-Kondensmilch eine hölzerne Trittleiter hinauf, um sie auf dem obersten Regalbrett zu stapeln. Dann sah sie nach unten. Drei Augenpaare waren auf die Titelseite des Malay Advocate geheftet: ihre Mutter und Dungeonboy drängelten sich neben Pietro, der die Zeitung vor sich auf dem Tisch hatte, um zu sehen, was da stand.
Schon seit mehreren Wochen, genaugenommen seit Singapur im September 1963 der Federation of Malaya beigetreten war, berichteten die Zeitungen von einer zunehmenden Welle ethnischer Disharmonie und dem tiefen Misstrauen, das die Rassen mittlerweile gegeneinander hegten. Angst und Frustration drohten sich Bahn zu brechen.
»Wer oder was ist denn diese LPM ?«, fragte Lu Sees Mutter mit der für sie so typischen beiläufigen Verachtung in der Stimme.
»Hören Sie, ich bestehe darauf, dass Sie sich links von mir hinstellen«, entrüstete sich Pietro. »Ich bin, wie Sie wissen, auf dem rechten Ohr taub!«
Sie ging um ihn herum. »Mir ist bekannt, dass sie sich die ›Labour Partei von Malaysia‹ nennen, aber ich bin mir sicher, dass sie waschechte Kommunisten sind. Sie tun nichts anderes, als die chinesische Kultur und die chinesische Erziehung zu fördern und antimalaiisches Gedankengut zu verbreiten.«
»Die einen sind genauso schlimm wie die anderen. Alle schüren sie den ethnischen und religiösen Hass, nur um Wählerstimmen zu gewinnen«, sagte Pietro nachdenklich.
Lu Sees Mutter beugte sich, auf die Ellbogen gestützt, ein Stück nach vorn. »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass ein LPM -Mitglied vor ein paar Tagen von der Polizei erschossen wurde, weil er sich seiner Festnahme widersetzt hat.«
»Das geschah aber erst, nachdem ein gegnerischer Politiker von chinesischen Radikalen in Penang geradezu in Stücke gehackt worden war«, erwiderte Pietro und stieß dabei einen Seufzer aus, als würde er gleich ohnmächtig.
»Ist wahr?«, fragte Dungeonboy mit großen Augen.
»Hand aufs Herz!«
Das Telefon läutete. Fishlips Foo nahm ab. » Wai-eeeee!«
Er knallte den Hörer auf die Gabel und kratzte sich an den Knöcheln, während er vor sich hin brummte: »›Söhne der Erde‹ nennen sich diese Malaien! Hum gaa chaan! Sind wohl mehr ›Söhne des Drecks‹.«
Er beäugte den Nachbartisch. Onkel Hängebacke, dem der Schweiß auf der Stirn stand, machte sich gerade über seine Schale mit Gemüsesuppe her.
Lu See stieg von der Trittleiter herunter und streckte die Arme über dem Kopf aus, um den Schmerz in ihrem Bauch ein wenig zu lindern, bewegte dabei die Ellbogen von rechts nach links. Das Telefon läutete erneut.
»Hum gaa chaan!«
Lu See riss dem alten Mann den Hörer aus der Hand. Sie hörte ein leises Zischen in der Leitung. Es klang wie das Brutzeln von Palmöl in einem heißen Wok. Dann hörte sie Stimmen und das Klappern von Schreibmaschinen.
»Ja? Wer ist da?« fragte sie.
»Hier spricht P. K. Au vom Malay Advocate .«
»Ja?« Lu See spielte nervös mit der Telefonschnur herum, während sie das sagte. Pietro streckte ihr auf der anderes Seite des Raums die Zunge heraus und schnippte
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