Das Haus der tausend Blueten
beantragen«, sagte Lu See.
Das Mädchen begutachtete lächelnd die Fingernägel ihrer linken Hand. »Geht nix.«
»Aber Sie haben sich ja noch nicht einmal meine Unterlagen angesehen.«
Das Mädchen wandte sich um und sagte etwas über die Schulter in den hinteren Teil des Raums. Sie sprach einen chinesischen Dialekt, den Lu See nicht verstand. Irgendwo hinter der Abtrennung lachte ein Mann.
»Ich würde gern Ihren Vorgesetzten sprechen.«
»Geht nix.«
»Warum?«
»Sie wollen uba Einreiselaubnis fur Tibet sprekken?«
»Ja. Ich habe schon zahllose Briefe geschrieben und unzählige Male mit Ihrer Visa-Abteilung telefoniert.«
»Sie morgen wieda telefonieren.«
»Aber ich will morgen nicht telefonieren. Ich bin jetzt hier. Wo ist Ihr Vorgesetzter, bitte?«
Das Mädchen blickte zum ersten Mal auf. Sie beugte sich nach vorn und zog mit ihren Fingern an einer Schnur. Eine Bambusjalousie fiel herunter.
Der Schalter war jetzt offensichtlich geschlossen.
Lu See schlug mit der Faust gegen die Scheibe.
Keine Reaktion.
Sie drehte sich um und sah sich einem Konsulatsbeamten in weißen Hemdsärmeln und schwarzer Hose gegenüber. Er war so unvermittelt aufgetaucht wie ein Schachtelmännchen. Das verblüffte sie.
»Welches Interesse haben Sie an Tibet?«, fragte er. »Warum möchten Sie das Land besuchen?«
Er hatte kurze, dicke Beine und schlechte Zähne.
»Ich habe eine Freundin in Lhasa, eine sehr liebe Freundin.«
Er stand da, die dicken Beine gespreizt, so wie ein Mann, der gleich eine Axt schwingen wird. Beim Reden bewegte sich nur seine Oberlippe.
»Bis auf Weiteres sind alle Straßen von und nach Tibet geschlossen. Das Land erlebt gerade eine friedliche Befreiung. Wir müssen ihm Zeit geben, sich ohne Einmischung von außen neu zu strukturieren.«
»Und was ist mit den armen Teufeln, die dort leben?«
»Diese armen Teufel, wie Sie sie nennen, profitieren von der Großzügigkeit Chinas. Es werden neue Schulen und Straßen gebaut. Es ist wie die Renovierung eines Hauses. Solche Dinge brauchen einfach ihre Zeit. In einigen Jahren werden die Menschen sehen, wie sehr wir Tibet geholfen und es modernisiert haben. Sie werden erkennen, in welch entscheidendem Maße wir das Leben der Tibeter verbessert haben.«
»So heißt das also bei euch?« Lu See drängte sich an ihm vorbei und sprach weiter, während sie sich wieder auf den langen Weg zurück zur Drehtür machte. »Ich nenne das mit eiserner Faust herrschen!«
Sie lief, ohne sich umzublicken, und als sie den Ausgang erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und sah dem Mann in die völlig emotionslosen Augen. »Ich nenne es mit brutaler Gewalt regieren, wenn ihr einem tiefreligiösen Volk die totalitäre Hölle eures geliebten Vorsitzenden aufzwingt!«
Nur wenige Augenblicke später wurde sie von einem uniformierten Wachmann zum Haupttor eskortiert.
»Ihr wisst, dass ich recht habe!«, rief sie. Eine seltsame Hochstimmung erfüllte sie. Es fühlte sich wunderbar an, ihnen die Meinung zu sagen. Sie holte tief Luft und schrie dann so laut sie konnte: »Ihr wisst, dass ich verdammt noch mal absolut recht habe!«
15
Sum Sum kämpfte sich unverdrossen voran, stemmte sich, den Kopf gesenkt, gegen den Wind. Dies war die letzte Hürde, die sie nehmen mussten. Sie konnte das Ende der Bergkette bereits sehen. Die Punjab-Himachal-Grenze lag unmittelbar hinter diesem Kamm, es waren nur noch dreißig Meilen. In ganz weiter Ferne glaubte sie sogar die schwarzen Umrisse von Bäumen erkennen zu können, meinte Rauch zu sehen, der von einer Werkstatt aufstieg, wo Schmiede auf ihren Ambossen das Eisen bearbeiteten.
»Wir haben nur noch eine Stunde Tageslicht.«
Sie zwang sich weiterzugehen, zählte ihre Schritte: … sieben, acht, neun, links-rechts, links-rechts, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, links-rechts, links-rechts, bis ihre Gedanken vor Erschöpfung abzuschweifen begannen. Sie dachte an eine Zugfahrt, eine Reise, die sie vor so vielen Jahren unternommen hatte. Der Zug war durch einen grünen Dschungel gerattert, dann durch Dörfer, kurze Zeit später hatten sie sich einer Stadt genähert. Die Landschaft hatte sich verändert – unbefestigte Wege waren durch asphaltierte Straßen abgelöst worden. Armselige Hütten mit bunten Ladenzeilen. Ein melodisches Orchester von Autohupen. Gebäude schossen vor ihr wie Bambusschösslinge in die Höhe. Juru. War das Juru? Und dann rief plötzlich jemand ihren Namen.
Das holte sie wieder in die Gegenwart
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