Das Haus der tausend Blueten
den Gleisen und den Gesprächen der anderen Fahrgäste lauschte, die sich über Hitler, über den Preis für einen Laib Brot und über Noel Cowards neues Stück unterhielten. Was machte sie hier eigentlich? Plötzlich kam ihr das alles so unbegreiflich vor. Genauso unbegreiflich, wie durch die Straßen einer fremden Stadt vor einem Mann mit einem Muttermal davonzulaufen, einer Stadt, in der niemand stehen blieb, um ihr zu helfen. Panik stieg in ihr auf. Sie öffnete die Augen. Das Gesicht des Mannes zog sich in den hintersten Winkel ihrer Erinnerung zurück.
Auch in London wurde sie nicht gesprächiger. Sie saß schweigend auf ihrem hölzernen Stuhl, während der Orgelbauer mit Lu See ausführlich den Auftrag besprach. Sum Sum starrte auf seinen Mund, sah, wie er sich bewegte, nahm aber kaum ein Wort von dem, was er sagte, wahr.
Er erklärte, dass die Lippen- und die Zungenpfeifen auf Bestellung gefertigt werden müssten und man sie nur aus dem feinsten Kupfer und Aluminium gießen würde. Außerdem bestand er auf eine Anzahlung.
Lu See händigte ihm die Hälfte der ihr anvertrauten Summe in bar aus. Wenn Sum Sum zugehört hätte, hätte sie sie vielleicht davon abgehalten.
11
Ende Mai wurde das Wetter besser, die tristen Tage wurden seltener. Der Himmel zeigte jetzt das tiefe Blau des Spätfrühlings, und die Backs, die weitläufigen begrünten Flussufer der Stadt an den Hinterseiten der zahlreichen Colleges, für die Cambridge so berühmt war, überraschten mit einem wahren Meer aus gelben und violetten Blüten.
Sum Sum genoss die frischen Gerüche des Frühsommers, die Geräusche dieser Jahreszeit. Das Zwitschern und Quaken. Sie spürte auch, dass sich in ihrem Bauch etwas veränderte.
Mein kleines char siu bao wird langsam kräftiger. Es schwimmt in mir wie ein Fisch.
Sie versuchte, sich nicht allzu viele Gedanken zu machen, was die Zukunft ihres Kindes anging, versuchte, optimistisch zu bleiben. Aber immer wenn sie an das Baby dachte, wurde sie einfach überwältigt. Freiheit, das war es, was sie sich für ihr ungeborenes Kind wünschte. Eine andere Freiheit als die ihre, die sie als Dienstmädchen erfahren hatte.
In ihrem Schlafzimmer auf dem Bett sitzend massierte sie mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. Da waren so viele Fragen, Fragen, auf die sie keine Antwort hatte. Wo würde das Kind zur Schule gehen? Wer würde sein Schulgeld bezahlen? Wenn das Kind ein Junge war, würden die Teohs ihn dann unterstützen? Sie hatten den Sohn der Wäscherin unterstützt und ihm geholfen, eine Lehrstelle in Penang zu finden. Ein Junge, dachte sie, ihren Bauch tätschelnd. Ich trage vielleicht einen lächelnden kleinen Jungen unter meinem Herzen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er wohl aussehen würde.
Dann fragte sie sich, welche Staatsangehörigkeit er haben würde. Wenn er in England geboren wurde, würde er dann Engländer sein? Konnte er nicht auch Tibeter sein? Was war, wenn die Behörden der Meinung waren, dass er keines von beidem sei? Vielleicht erklärte man ihn wie einen Flüchtling zu einer staatenlosen Person. Nicht von hier, nicht von dort. Was war dann?
Sie könnten sie an Bord eines Schiffes bringen und ihr untersagen, jemals wieder zurückzukommen. Sie könnten auch jemanden schicken, der ihr das Baby wegnahm. Jemanden, der ihr Böses wollte. Jemanden wie den Mann mit dem Muttermal.
Sie schauderte. Allein schon beim Gedanken an diesen Mann verdunkelte sich etwas in ihrem Inneren und breitete sich dann aus wie ein dunkler Fleck.
Sie betrachtete sich in ihrem Schlafzimmerspiegel, suchte nach körperlichen Spuren ihres Martyriums. Da waren jedoch keine zusätzlichen Fältchen um ihre Augen herum entstanden, keine neuen Linien hatten sich neben ihren Mundwinkeln in die Haut eingegraben. Ihr Gesicht zeigte nichts. Gar nichts. Es war leer und unbeschrieben wie ein weißes Blatt Papier.
Werde ich es Lu See jemals sagen, fragte sie sich, oder werde ich weiterhin über das schweigen, was auf diesem verlassenen Grundstück vor so vielen Wochen geschehen ist? Kann man eine Erinnerung einfach auslöschen?
Vielleicht würde es ihr gelingen, sie mit der Zeit in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses zu verbannen. Oder einzufrieren, so wie eine Fliege, die im Eis eingeschlossen ist. Sie spürte, wie sich ihre Hände unwillkürlich zu Fäusten ballten. Was sie wirklich wollte, war, aus England zu verschwinden. Sie wollte diesen Ort, wo es geschehen war, weit hinter sich lassen. Warum konnte sie
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