Das Haus der tausend Blueten
behalten.«
»Gut. Dann wäre das also geklärt. Wirst du Aziz schreiben, dass du schwanger bist?«
Wieder zögerte Sum Sum.
»Was?«, hakte Lu See nach.
»Nichts. Es ist nichts.« Sum Sum sah Aziz’ Gesicht vor sich. Dann schweifte ihre Erinnerung zu ihrer gemeinsamen Zeit an Bord des Schiffes zurück. Sofort kamen ihr seine muskulösen Arme, seine schlanke Taille, die Straffheit seines Körpers in den Sinn.
Gefasst schüttelte Sum Sum den Kopf. »Das Kind wird ohne Vater aufwachsen, lah . Ich nicht will, dass Aziz erfährt. Ich will nicht Schande über ihm bringen. Außerdem hab ich auch gar nicht Adresse von ihm.«
Lu See überlegte. »Mach dir keine Gedanken. Wir werden Mrs Slackford sagen, dass du verheiratet bist. Wir sagen ihr einfach, dass dein Mann bei den Gurkha Rifles in Indien stationiert ist. Dann ist sie auch nicht klüger als zuvor, genauso wenig wie die Nachbarn.«
Lu See zählte an ihren Fingern ab, wie viele Monate vergangen waren, seit sie Aziz das letzte Mal gesehen hatten. »Das Baby kommt Anfang Oktober, bis dahin sind es noch fast sechs Monate.«
Sie musste unwillkürlich daran denken, wie sie damals, als sie sieben Jahre alt gewesen war, mit Onkel Hängebacke im Fluss geschwommen war. Wie er sie mit Engelszungen dazu überredet hatte, sich in das schnell dahinfließende Wasser zu wagen. Wie sie sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, damit ihre Oberschenkel und ihr Po nicht nass wurden, während ihr Onkel mit dröhnender Stimme ihren Namen gerufen hatte. Sie hatte die Luft angehalten und war dann, die Arme ausgestreckt, mit dem Kopf voran ins Wasser eingetaucht. Sum Sum müsse jetzt genauso tapfer sein und ins kalte Wasser springen, sagte Lu See.
»Werden wir zurechtkommen?«, fragte Sum Sum.
Lu See nickte. Sie spürte einen Stich in ihrem Herzen. »Wir werden mehr als nur zurechtkommen.« Sie nahm die Hand ihrer Freundin, Handfläche an Handfläche. »Wir werden dieses Kind gemeinsam aufziehen. Es wird stark, gesund und glücklich werden. Ich verspreche dir, dass es uns allen gut gehen wird.«
Lu See sah, wie der leere Ausdruck aus dem Gesicht ihrer Freundin verschwand und ihre Augen im Halbdunkeln zu leuchten begannen. Sie hoben ihre Teetassen. Sum Sums Schultern strafften sich.
»Auf uns!«
Die Tassen gaben ein leises pling von sich, als sie miteinander anstießen.
Sie blieben in der Küche sitzen, bis es hell geworden war, dann zogen sie sich an und traten in den frischen neuen Morgen hinaus. Sie gingen zur Konditorei Fitzbillies in der Traumpinton Street und kauften dort zur Feier des Tages vier Rosinenbrötchen. Dann standen sie im langen Schatten, den die Morgensonne warf, da und genossen ihr Gebäck. Die Zimtglasur klebte an ihren Lippen.
10
Der Optimismus, den Sum Sum wegen des Babys empfunden hatte, war nicht von langer Dauer. Ein Kind ohne Vater aufzuziehen würde sich auf jeden Fall schwierig gestalten, und dies noch dazu in einem Land zu tun, wo die Menschen sie jetzt schon schief ansahen, würde so gut wie unmöglich werden.
Ist es meine Schuld, fragte sie sich, dass ich kein perfektes Englisch spreche, dass ich anders aufgewachsen bin als die Menschen hier, dass ich eine andere Hautfarbe habe? Ich bin nur ein Mädchen aus einem kleinen Dorf in Tibet. Diese Engländer sind wirklich komisch. Einige starren mich auf der Straße neugierig an, andere weichen mir aus, so als fürchteten sie, ich wäre eine Hexe und könnte sie mit einem puff ! verschwinden lassen.
Ihr Heimweh wurde mit jedem Tag größer. Auch merkte sie, dass sie Lu See gegenüber einen leisen Groll zu empfinden begann, obwohl sie beim besten Willen nicht sagen konnte, warum das so war.
Vielleicht bin ich böse auf sie, weil sie meinen Schmerz nicht bemerkt. Wenn sie eine wirklich gute Freundin wäre, würde sie doch spüren, was mir widerfahren ist. Das müsste sie doch merken, oder etwa nicht?
Eines Tages trafen gleich zwei Briefe aus Malaysia ein. Sum Sum legte sie vor Lu See auf den Tisch. Der erste Brief kam von Lu Sees Mutter. Diesmal war er in einem freundlicheren Ton gehalten.
Meine Tochter,
selbst wenn du Schande über uns gebracht hast, so mache ich mir dennoch Sorgen um dich. Du bist schließlich mein Kind. Du wohnst in meinem Herzen. Ich werde mir also immer Sorgen um dich machen, ganz egal wie alt du bist.
Gestern hatte Ah-Ba Geburtstag. Seine Fußknöchel sind sehr geschwollen. Der Arzt sagte, dass er auf Salz im Essen verzichten muss. Ich aber glaube, dass die nervliche
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