Das Haus der tausend Blueten
neben dem Piloten eine Akte, auf deren Deckel die Worte Top Secret gestempelt waren. Sie löste den Verschluss. Die Akte enthielt Diagramme und handgezeichnete Landkarten. Der Text war Englisch.
Als Sum Sum das Dokument überflogen hatte, sah sie Jampa an, die die ganze Zeit über aufmerksam ihr Gesicht studiert hatte. »Diesen Papieren zufolge bereiten sich die Amerikaner auf einen neuen Krieg in China vor. Einen Krieg zwischen den chinesischen Nationalisten und den chinesischen Kommunisten. Diesmal, glaube ich, werden auch wir den Donner der Kanonen hören.«
Jampa und Sum Sum starrten einander an. Sie hörten, wie die Tür des Frachtraums aufgestemmt wurde. Es waren die Bewohner des Dorfes, die inzwischen an der Absturzstelle eingetroffen waren. Sie begannen bereits, das Flugzeug auszuschlachten.
Wenige Sekunden später vernahmen sie ein leises Stöhnen. Einer der Männer war doch noch am Leben.
Sie trugen den verletzten Flieger in einer Decke aus Yakfell zum Kloster.
Dort betteten sie ihn im Schatten einer überhängenden Dachtraufe flach auf den Boden des Hofes. Eine der Novizinnen kniete sich neben ihn und legte ein kühlendes Jasmintuch auf seine Stirn. Sum Sum hielt ihm eine Schale mit Buttertee an den Mund. Der Geschmack der warmen Flüssigkeit schien ihm gutzutun. Vorsichtig zogen sie ihm dann seine Fliegerjacke aus und öffneten sein Hemd, um ihm das Atmen zu erleichtern.
Alle drängten sich flüsternd um den Verletzten, um einen Blick auf ihn werfen zu können.
Das Flüstern verstummte, als die Äbtissin im Hof erschien. Die Novizinnen scharten sich wie eine Schar von Spatzen zusammen, die einen Adler über sich sehen.
Jampa, die angespannt wirkte, neigte den Kopf und sprach als Erste. »Er kam mit einem Eisenvogel durch die Wolken. Er flog über die großen Berge.«
Die Äbtissin trat eine Schritt zurück und starrte dann den Flieger kritisch wie ein Yak, dessen Milch sauer geworden ist, an. »Wir haben sehr strenge Regeln. Männer haben hier keinen Zutritt.«
»Das wissen wir, Euer Ehrwürden«, sagte Jampa durch ihre zusammengepressten Lippen. »Aber der Mann ist offensichtlich sehr schwer verletzt.«
»Wir müssen ihn zum Mönchskloster bringen. Der Hohe Abt soll entscheiden, was mit ihm geschehen soll. Nur er besitzt die Reife und die Weisheit, dies zu erkennen.«
»Wenn wir ihn bewegen, wird er sterben«, widersprach Sum Sum. »Hier können wir ihn vielleicht retten. Das Mönchskloster ist mehrere Meilen entfernt.«
Jampa schnalzte mit der Zunge und versuchte so, die Anspannung, die in der Luft lag, zu zerstreuen.
Die Äbtissin sah Sum Sum voller Missbilligung an. »Wir kennen uns mit so etwas nicht aus. Sieh ihn dir doch nur an: Er hat sogar Tintenbilder auf seiner Brust. Diese weißen Männer sind Männer des Krieges. Sie sind genauso hart wie ihr merkwürdiger Akzent. Wir müssen die Entscheidung dem Hohen Abt überlassen. Und du, Sengemo, wirst lernen müssen, deine Zunge im Zaum zu halten. Du bist jetzt in einem Nonnenkloster. Du kannst nicht einfach etwas sagen, nur weil dir der Sinn danach steht. Zeig dich weiter so widerspruchsfreudig, und du wirst schon bald feststellen, dass du dich sehr anstrengen musst, um hierbleiben zu dürfen.«
Sum Sum nickte ernst, verzichtete jedoch darauf, unterwürfig den Blick zu senken. Sie bereute es nicht, dass sie kein Blatt vor den Mund genommen hatte. Die Äbtissin verschwand sichtlich verärgert in einem kleinen Durchgang, um sich wieder in ihre Räume zurückzuziehen.
Sum Sum dachte über die Worte der Äbtissin nach. Der Satz »du wirst dich sehr anstrengen müssen, um hierbleiben zu dürfen« klang in ihren Ohren nach. Sie ließ erschöpft die Luft aus ihren Lungen entweichen und spürte, wie die verschiedensten Emotionen in ihr arbeiteten – Trotz, Stolz, Zorn und vor allem Angst. Angst davor, wieder allein zu sein. Aber in diesem Augenblick war es ihr egal, was die Äbtissin dachte. Sie hatte etwas Gutes getan. Sie hatte geholfen, ein Menschenleben zu retten. Und wenn man so etwas hier nicht schätzte, dann würde sie eben gehen.
Sum Sum marschierte in Richtung Schlafsaal. Sobald sie außer Hörweite war, begann hinter ihr wieder das Flüstern.
7
Spätnachmittag. Man feierte das Herbstfest. Es war jetzt vierzehn Tage her, dass Malaysia befreit worden war.
Der Tag war drückend schwül gewesen – Onkel Hängebacke hatte das Gefühl, unter einem dampfend heißen Handtuch in einem Friseurladen zu liegen. Er saß
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