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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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auf einer Bank mit Blick über das Tal gesessen und die Ruhe genossen. Sie hatte leise ein hundertsilbiges Mantra vor sich hin gemurmelt, wobei sie niemand stören durfte. Die Morgenluft war frisch und kühl gewesen, in den Bäumen hatten die Vögel gezwitschert. Sie hatte das Vajrasattva yik gya etwa zur Hälfte aufgesagt, als Sum Sum sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, kurzerhand neben sie gesetzt hatte.
    » Aiyoo, ein wunderbarer Sonnenaufgang, nicht wahr? Man nennt mich hier Sengemo . Und wie heißt du?«
    Sum Sum hatte kaum auf der Bank Platz genommen, als die Vorsteherin des Tempels mit drohend erhobenem Zeigefinger und flatternden Gewändern herbeigestürzt kam.
    »Was im Namen von Moggul und Trazil bildest du dir ein?«, hatte sie Sum Sum in giftigem Ton angezischt. »Lass Ihre Ehrwürden in Ruhe! Sie darf bei ihrer Meditation nicht gestört werden. Fort mit dir! Fort!«
    Die Äbtissin hatte Sum Sum finster angestarrt. Ihre Augen hatten dabei auf sie gezielt wie zwei Kanonenrohre. Dann hatte sie ein übellauniges Schnauben ausgestoßen. »Sie soll fünfzig Zeilen des tengyur abschreiben.«
    Woher sollte ich wissen, dass das die Äbtissin ist?, hatte sich Sum Sum beim Frühstück im Stillen beschwert. Es ist ja nicht so, dass sie ein Messingschild mit ihrem Namen auf der Brust tragen würde. Sie hatte ihren Blick über die Siebzigerinnen mit ihren kahl geschorenen Köpfen schweifen lassen, die sich an der erhöhten Speisetafel über ihre Schüsseln beugten . Hier sehen doch alle, die über fünfzig sind, gleich aus, lah!
    »Sandmalve, Guduchi, Kutai, Nachtjasmin, Khas-khas«, drang Jampas Stimme jetzt in ihre Gedanken ein. Sum Sum fand sich im Schatten des Baumes wieder. »Indischer Wasser nabel, Sennespflanze, Färberhülse.« Jampa ratterte die Na men herunter wie ein Maschinengewehr. »Sogar die Blütenblätter des Hibiskus finden in unserer Medizin Verwendung. Kann mir jemand sagen, wie wir den Hibiskus nutzen?«
    Eine kleine dicke Novizin hob die Hand. Sie hatte ein rundes Gesicht. Über ihren Lippen lag der Schatten eines Schnurrbarts. Sum Sum fand, dass sie auf einer Bühne ohne weiteres Oliver Hardy hätte spielen können.
    »Ich weiß alles über den Hibiskus«, sagte die kleine Dicke mit schriller Stimme. »Meine Großmutter hat damit oft Karbunkel behandelt.«
    » Ndug’re! In Ordnung. Ja, man muss die Blüten zu einer Paste zerstampfen und sie als Breiumschlag auf die Schwellung legen.«
    »Was ist mit dir, Tormam? Was weißt du über den Hibiskus?«
    Alle Blicke richteten sich auf eine schüchterne junge Frau, die weiter hinten saß. Sum Sum erkannte in ihr die Novizin, die im Schlafsaal das Bett neben ihr belegte. Als sie ihren Namen hörte, wurde Tormam rot und begann zu stottern: »E … er … er wird verwendet, um … die Blätter können zerstoßen und mit Wasser vermischt eingenommen werden, um … um bei Problemen beim Wasserlassen zu helfen.«
    »Ndug’re!«, strahlte Jampa.
    Genau in diesem Moment hörten sie das Geräusch eines Flugzeugs.
    »Ein Eisenvogel!«, rief jemand. Ein kleiner schwarzer Punkt zog langsam vor dem Hintergrund der hellen weißen Wolken dahin.
    »Kommt«, sagte Jampa. »Lasst uns yarchagumba suchen.«
    Der Yarchagumba war ein Pilz, der auf den Köpfen von Raupen wuchs. Schon die alten Tibeter kannten ihn als »Kraut des Lebens«. Sie wussten, dass er bei Kopfschmerzen, Atemwegserkrankungen und Impotenz eingesetzt werden konnte. In den Sommermonaten mussten die Novizinnen einmal die Woche ins Sera-Tal gehen und ihre Körbe damit füllen.
    Also begaben sich die Frauen auf die Suche nach den Schmetterlingslarven und wanderten über die Wiesen davon. Unzählige Fliegen folgten ihnen, umkreisten summend ihre Gesichter. Sie stiegen in das steile Tal hinunter und erreichten Weideland mit feuchtem Grund. Hier gingen sie in die Hocke und begannen, die Erde mit ihren Händen zu durchsieben. Überall um sie herum erhoben sich hohe Berge. Der Wind blies Fahnen aus weißem Pulver von den Bergspitzen.
    »Ich hab einen!«, rief Sum Sum. Sie hielt eine tote Raupe hoch. Der Pilz wuchs wie ein Paar Hörner aus dem Kopf des Tieres heraus. Tormam kam mit einem Korb zu ihr. Gemeinsam durchwühlten sie dann den Boden über eine Stunde lang mit den Fingern. Von Zeit zu Zeit fanden sie tatsächlich eines der schuppigen Insekten.
    Gegen Mittag lenkte sie das Motorengeräusch eines anderen Flugzeugs ab. Sum Sum kniff die Augen zusammen und blickte zum Himmel. Irritiert stellte sie fest,

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