Das Haus der tausend Blueten
schien sich über sie lustig zu machen. Sie nahm den Schemel, stieg auf die Sitzfläche und stellte sich auf ihre Zehenspitzen. Ihren Abscheu überwindend griff sie in das wirre Haar und hob den Kopf so an, dass das Mondlicht direkt auf sein Gesicht fiel.
Da ist das Muttermal … aber … irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas ist nicht richtig.
Und plötzlich wusste sie es.
Es ist die falsche Wange. Das Muttermal müsste auf seiner linken Gesichtshälfte sein und nicht auf der rechten. Er ist es nicht. Das ist nicht das Schwarzköpfige Schaf.
Sie fühlte sich mit einem Mal vollkommen kraftlos. Es war, als wäre sie soeben aus einem Albtraum aufgeschreckt und wollte schreien, nur um festzustellen, dass sie nicht einen einzigen Muskel in ihrem Körper bewegen konnte.
Zum ersten Mal wünschte sie sich, Oberst Tozawa wäre noch da, um sie zu beschützen.
6
Als das tibetische Grasland grün wurde, kamen die Dorfbewohner zum Fest der Berggötter zusammen, um den Gottheiten Speiseopfer darzulegen. Sie versammelten sich, die Frauen links, die Männer rechts, am ndekheng, dem Schrein des Dorfes, um im sangkong -Ofen Koniferenzweige zu verbrennen. Tänzer schlugen rechteckige, mit Ziegenfell bespannte Trommeln und bewegten sich mit wiegenden Schritten im Kreis, während sie die himmlischen Mächte anflehten, ihnen eine reiche Ernte zu bescheren. Im Zentrum all dessen stand der ihawa, das in Trance verfallene Medium, und sprach unverständliche Worte, vertrieb so das Böse aus dem Boden. Seine Schüler durchbohrten sich währenddessen die Wangen mit langen Nadeln aus Metall.
Nicht weit entfernt davon saßen Sum Sum und die anderen Novizinnen im Schatten eines Baumes zu Jampas Füßen, umgeben von wilden Blumen und hellgrünen Sprossen, die sich durch die trockene Erde dem Himmel entgegenkämpften. Sie hielten gerade eine Unterrichtsstunde über die heiligen ayurvedischen Texte.
»Den Raupenpilz«, erläuterte Jampa, »verwenden wir, um die Abwehrkräfte des Körpers zu stärken und den Blutdruck zu senken.« Sie zog etwas aus dem Futter ihres Gewandes und schnalzte mit der Zunge. » Ndug’re, hier haben wir ein Stück Indische Schlangenwurz. Ihr erkennt sie an ihren üppig grünen Blättern und den schwarzen Beeren. Der wirksame Teil ist jedoch die Wurzel. Es heißt, dass ein Mann aus Burma beobachtet hätte, wie ein mahout seine nervösen Elefanten mit der Wurzel gefüttert hat, um sie zu beruhigen. Im Westen wird Schlangenwurz als Arznei gegen Bluthochdruck eingesetzt.«
Sum Sum hatte vieles von dem, was Jampa sagte, schon einmal gehört. Ihre Mutter war eine Medizinfrau gewesen. Gebetshallenleiterin Jampas eintönigem Vortrag über die einheimischen Kräuter und ihre Rolle in der Heilkunst zuzuhören kam ihr so vor, als würde sie dem Ticken einer alten Wanduhr lauschen, deren Pendel langsam von einer Seite zur anderen schwang. Jampas Gerede lullte Sum Sum in den Schlaf. Sie spürte, wie ihre Lider schwer wurden und ihre Kiefermuskeln sich langsam entspannten.
Die Langeweile musste ihr ins Gesicht geschrieben gewesen sein, denn plötzlich rief Jampa ihren Namen. »Sengemo!«, forderte sie sie mit einem Lächeln auf, das sich ohne jeden Zweifel auch durch Stahlwolle zu fressen vermochte. »Würdest du freundlicherweise zusammenfassen, was ich eben gesagt habe?«
Schuldbewusst blinzelte Sum Sum sie an. Sie hatte keine Frage erwartet. Ein wenig verlegen versuchte sie Zeit zu gewinnen, indem sie etwas von einem Elefanten nuschelte.
Ohne ihr die Gelegenheit zu geben, das weiter auszuführen, hielt Jampa Sum Sum ihre rechte Hand unter die Nase. »Riechst du das?« Während sie so die Aufmerksamkeit aller auf das getrocknete Stück Knolle lenkte, wiederholte sie mit lauter Stimme noch einmal, was sie gesagt hatte.
»Schlangenwurz«, bellte sie in der Art einer Wahnsinnigen, die mathematische Tabellen herunterbetet. »Auf Sanskrit als chandrika bekannt. Man behandelt damit Hypertension. Bluthochdruck. Fiebersenkend. Schädlich für Schwangere. Findet auch Verwendung als Gegenmittel beim Biss einer Giftschlange.« Dann sah sie Sum Sum böse an. »Leider hilft es nicht bei Konzentrationsstörungen. Hör auf zu schmollen, Sengemo , das steht dir nicht.«
Sum Sum stellte resigniert fest, dass dieser Tag genauso unangenehm weiterging, wie er angefangen hatte. Schon am Morgen war Sum Sum von der Vorsteherin des Tempels gescholten worden, weil sie die Äbtissin bei ihrer Meditation gestört hatte. Die Äbtissin hatte
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