Das Haus der Tibeterin
Schwerkraft. Ein Rhythmus, der seit ewigen Zeiten bestanden hatte und auch so weiterbestehen würde. Ich befühlte meine Zähne mit der Zunge, merkte, dass ich es war, die hier lebte, fand mich einem Sturm der Emotionen ausgeliefert, süßen und bitteren und grausamen. Ich empfand ein verzweifeltes Erstaunen darüber. Sonams Worte hatten Gefühle des Schwindels in mir geweckt, das plötzliche Auftun und Wiederversinken einer früheren Welt. Das Herz tat mir weh, weil diese Welt mir plötzlich so dicht auf die Haut gerückt war. Wie war das möglich? Wie brachte Sonam das fertig? Verwechselte sie ihre Vergangenheit mit der Vergangenheit ihrer Mutter?
»Wer hat dir das alles erzählt?«, brach ich schließlich das Schweigen. »Woher weißt du so viele Einzelheiten?«
Ihr Gesicht war zur Hälfte von der Stehlampe beleuchtet.
Wie das Profil einer Münze sah es aus, ein strenges Gesicht, schön und schwermütig. Es schien aus einer anderen Zeit zu kommen. Für mich bedeutete dieses Gesicht alles; hierzulande war es lediglich ein fremdes Gesicht.
»Woher? Nun, ich habe nachgeforscht.«
»Und manches erfunden, ja?«
Sie zog die knochigen Schultern hoch.
»Vielleicht.«
»Was wurde aus deiner Mutter? Hat sie Kanam wiedergesehen?«
Ihre Augen starrten mit kaltem Glanz ins Leere.
»Nein. Sie kam wohlbehalten nach Shigatse, zu den Schwiegereltern. Die Strapazen der Reise hatten an ihren Kräften gezehrt. Sie wurde krank: Tuberkulose, Rheuma. Sie saß den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein in Decken eingehüllt auf der Veranda. Sie achtete unaufhörlich darauf, sich nicht in ihren Gedanken zu verlieren, was sie vermutlich daran hinderte, wahnsinnig zu werden. So jedenfalls wurde mir berichtet. Im Radio herrschte Militärzensur, alle Telefonleitungen waren unterbrochen. Der Strom der Flüchtlinge, die Tibet zu verlassen versuchten, nahm nicht ab. Eines Tages kam ein Mönch, der Longsela um ein Gespräch unter vier Augen bat. Er war ein Angehöriger der Kagyupa-Sekte und stammte aus Batang, an der Ostgrenze Khams. Der Mönch erzählte, dass ein Flugzeug Kanams Reiter unter Beschuss genommen hatte. Bei diesem Angriff, der auch Phurbu das Leben kostete, wurde Kanam schwer verletzt. Er war noch bei Bewusstsein, als er von seinem Sohn geborgen wurde, starb aber einige Stunden später infolge des hohen Blutverlustes. Seine letzten Worte galten der Herrin der Türkise. Es war wirklich besser für Kanam, dass er starb, denn er litt furchtbare Schmerzen, und es gab kein Betäubungsmittel. ›Sein Sohn bat mich, Euch davon in Kenntnis zu setzen‹, beendete der Mönch seine Erzählung. Longsela dankte ihm und sorgte dafür, dass er im Haus der
Schwiegereltern zu essen bekam und sich ausruhen konnte. Nachdem sich der Mönch wieder auf den Weg gemacht hatte, verbrachte sie noch einige Tage auf der Terrasse. Sie sprach kaum noch, verweigerte jede Nahrung, nahm nur etwas Wasser zu sich. Sie starb kurze Zeit später: Eines Abends schlief sie ein und erwachte nicht mehr.«
»Wie hast du vom Tod deiner Mutter erfahren?«, fragte ich.
»Wie fast alles in dieser Geschichte: durch Nachforschungen.«
»Durch Träume vielleicht auch, oder?«
Sie reagierte heftig.
»Träume mag ich überhaupt nicht. Das solltest du wissen.«
Ich hatte trotz meiner Erschütterung das Gefühl, dass sie nicht ganz ehrlich zu mir war.
»Was hat dich so gemacht?«, fragte ich beherzt. »Deine chinesische Erziehung? Kann das sein?«
»Meine chinesische Erziehung?« Sie spuckte die Worte geradezu aus. »Wie kommst du auf solchen Unsinn?«
Ich bewahrte meine Geduld.
»Amla, ich bin kein Kind mehr. Und, offen gesagt, ich habe etwas gegen außergewöhnliche Schicksale. Selbst gegen solche Schicksale wie deines.«
Sie parierte mit Leichtigkeit.
»Wer hätte das auch erleben wollen?«
»Eigentlich hasse ich solche Geschichten!«
»Warum willst du sie denn hören?«
»Weil ich neugierig geworden bin. Weil du mir Dinge verheimlicht hast, die zur Geschichte unserer Familie gehören und folglich auch zu meiner Geschichte. Ich hänge, verdammt noch mal, nicht lose in der Luft herum!«
»Du sollst nicht fluchen.«
»Ist mir egal! Ich will endlich wissen, was mit euch geschah, als die Soldaten euch wegbrachten!«
»Wie oft muss ich dir das noch sagen? Wir kamen in ein Arbeitslager, wo wir eine Straße bauten.«
»Kinder? Die eine Straße bauten?«
»Aber gewiss. Wir mussten Steine schleppen. Das ist gar nicht so schlimm, wenn du den Dreh raus hast. Der
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