Das Haus der Tibeterin
Jetzt aber traten sie in den Vordergrund, die Verstorbenen. Es war kein düsteres Gefühl, dass sie so nahe waren. Nur ein trauriges.
DREISSIGSTES KAPITEL
I n der kurzen Nacht, die ich danach hatte, träumte ich von dem Haus der Weiden. Wie man es in Träumen erlebt, war etwas Seltsames an diesem Haus. Ich sah die Weiden mit ihren wehenden Zweigen, und auch die Aprikosenbäume, die reife Früchte trugen. Die Dran-nye erklang in einer besonderen Tonlage, fröhlich und wie überdreht. Ich sah erleuchtete Erkerfenster und dahinter Gestalten, die kamen und gingen. Gelächter ertönte, und eine Frauenstimme rief meinen Namen: »Dolkar!«
»Ich komme schon!«, rief ich freudig und lief auf die offene Tür zu. Im Haus brannten Kerzen, Rollbilder funkelten golden und grün, eine lebensgroße Statue leuchtete. Vor der Tür stand eine Gestalt, versperrte mir den Weg. Ich sah sie nicht deutlich, erkannte aber, dass es sich um ein Kind handelte, einen kleinen Jungen. Sein Blick war im Dunkeln auf mich gerichtet. Er hielt ein Gewehr in den Händen, das er plötzlich an seine Schulter riss.
»Peng!«, rief er laut. Da verblassten alle Farben, die Kerzen erloschen, die Halle füllte sich mit Schatten. Ich blickte empor und sah, dass das Haus ohne Dach war. Düster leuchtende Sterne schwammen auf dem dunklen Firmament darüber. Auf einmal kam ein Windstoß auf, die Wände fielen ganz lautlos, ganz langsam in sich zusammen.
An dieser Stelle erwachte ich. Mein Herz schlug heftig, und ich hatte Kopfschmerzen. Durch die Ritzen der Rollläden schimmerte graues Licht. Ein regnerischer, trüber Montagmorgen begann. Zeit zum Aufstehen.
Schlaf ist, wo wir dem begegnen, was die Dunkelheit verbirgt. Da kommen Erinnerungen, die nicht zu unserem bewussten Ich gehören, sondern die wir mit uns schleppen wie Schwemmsand. Im Traum mag es vorkommen, dass wir zur Wahrheit der Dinge vordringen, in einen gefährlichen Bereich, in dem wir zerplatzen wie Regentropfen.
Die Dusche, dann der Kaffee, den ich im Jogginganzug in der Küche trank, brachten mich zu Besinnung. Ich zog mich rasch an und fuhr ins Büro. Hier war meine Zürcher Wirklichkeit: die Straßenbrücken, der Verkehr, die Tiefgarage dann, die puristischen Betonwände, die hohen Fensterfronten, Designerchic überall. Die lässig gestylten Mitarbeiter, die mit Montagmorgengesichtern vor der Kaffeemaschine standen, sie alle gehörten zu mir, zu meinem angenehmen Leben im Hier und Jetzt, wo Projekte erschaffen, Ideen umgesetzt wurden, wo Architekten mit den Kunden kalkulierten, wie Neubauten und Renovierungen finanziert werden konnten. Mein Leben im praktischen, eleganten und effizienten Rahmen. Und alles war gut, war sogar bestens, trotz der Krise. Um neun war das Atelier geschäftig wie ein Bienenstock. Ich saß vor dem Computer, nicht mehr die Vergangenheit, sondern nur den Monitor vor Augen. Ein Projekt hielt mich in Atem, ein geplantes Kunstzentrum in Stadelhofen, und meiner Wesensart entsprechend nahm ich alles sehr genau. Aber da war ein anderes Haus in meinem Kopf, das Haus in Lhasa. Was bedeutete das Haus für mich? Im Milieu der Architekten gab es eine häufig ausgesprochene These, nämlich, dass unser Traumhaus dem Haus unserer Kindheit gleicht. Aber bei mir funktionierte das nicht. Das Haus war nämlich das Haus meiner Mutter. Noch einmal zurück zu diesem Haus? Der Geist, der es bewachte, hob sein Gewehr. Wehe dir, wenn du weitergehst! Noch ein Schritt, und du bist tot.
Peng!
Ich klickte mit der Maus und hörte mich laut denken: »Das
ist ein ganz normaler Lebensvorgang. Die Ablösung von der Familie. Daran ist nichts Ungewöhnliches.«
Es war Kelsang, der mir auf unsicheren Beinen den Weg versperrte. Die Dinge, über die er nicht sprach, tanzten hinter seinen Augen. Unsichtbare Szenen spülten heran, unhörbare Stimmen plapperten, aktiv und unermüdlich. War er ein Kommunist? Was für ein Kommunist war er? Ich lehnte mich zurück und rieb mir die Stirn. Entweder man macht seine Sache richtig, wie sie sein muss, oder man lässt sie bleiben. Ich fühlte mich auf ekelhafte Weise mit Elektrizität geladen. So kam ich nicht weiter. Ich brauchte ein Orakel.
Chimie war mit Terminen vollgepackt. Wir verabredeten uns zu einer Tasse Kaffee. Chimie war wie üblich reizend anzusehen; schwarzes Designerkostüm, weißes T-Shirt. Regentropfen funkelten in ihrem elegant wippenden Haar, das voll und glatt zu beiden Seiten der Wangen herabfiel. Über ihren Schultern hing ein Trenchcoat.
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