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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Ihre Erscheinung war einfach und untadelig, wirklich schön. Chimie konnte auf Highheels durch Regengüsse schreiten, strauchelte nicht und sah immer wie aus dem Ei gepellt aus.
    »Chimie, was bedeutet es, wenn man von einem Haus träumt, das man selbst nie gesehen hat?«
    »Oh«, sagte sie, »hat dir deine Mutter Fotos gezeigt?«
    »Sie besitzt keine. Stattdessen hat sie mir ihre Narben gezeigt. Peitschenhiebe. Ihr Rücken ist furchtbar entstellt. Es ist zum Kotzen, verzeih. Ich sah diese Narben gestern zum ersten Mal. Sie hatte sie immer vor mir verborgen.«
    »Hast du sie endlich aus der Reserve gelockt?«
    »Wie man’s nimmt. Aber sie bleibt in der Defensive. Von sich selbst hat sie kaum gesprochen. Dafür stundenlang von ihrer Mutter. Es fing ganz harmlos an. Reisebüro-Romantik, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Total.«
    »Und dann legte sie los. Ich hatte gedacht, es würde mir
nichts ausmachen. Wir wissen ja, was in Tibet geschah. Aber ich konnte es fast nicht aushalten, es ging mir durch und durch. Der reinste Horrorfilm, und ohne Happy End.«
    »Überlebende?«
    »Keine!«
    Wahrend ich ein wenig erzählte, saß Chimie still und beobachtete mich mit einem nachdenklichen Blick. Ihre Finger, zart und wohl sehr feinfühlig an den Spitzen, hielten behutsam die Tasse. Sie trank mit Anmut ihren Kaffee und lehnte sich dann zurück.
    »Ich komme allmählich dahinter. Sonam hat ein Haus im Gedächtnis, das ihre Bedürfnisse nach Geborgenheit erfüllte. Sie wurde von den Chinesen verschleppt und verbrachte fünf Jahre ihres Lebens in einem zerlumpten Zelt. Mit anderen Worten: Sie wurde gewaltsam aus ihrer behüteten Kindheit gezerrt. Steht das Haus eigentlich noch?«
    »Keine Ahnung. Ich kann mir vorstellen, dass es zerbombt wurde.«
    »Jetzt weiß ich auch, warum du Architektin wurdest.«
    »Ich rede von Sonam.«
    »Ich auch. Du willst Sicherheit schaffen. Für deine Mutter. Ist es das, Dolkar?«
    Ein Frösteln überlief mich.
    »Ich muss darüber nachdenken.«
    »Tu das mal«, sagte sie gelassen.
    Mich indessen hatte sie gehörig aus der Bahn geworfen. Ich schluckte und sagte: »Noch etwas, Chimie. In meinem Traum stand ein Junge mit einem Gewehr vor der Tür. Er hat auf mich gezielt und ›Peng‹ gesagt.«
    »Dein Onkel Kelsang also? Oder täusche ich mich da?«
    »Anscheinend nicht.« Ich seufzte. »Aber was hat Kelsang mit mir zu tun?«
    »Sagtest du nicht, er sei Mönch geworden, weil er Kommunist war?«

    »Das habe ich jedenfalls geglaubt.«
    »Vielleicht war es nicht nur deswegen.«
    »Du meinst, es war, weil er diese arme Frau getötet hat?«
    »Er war ja ein Kind, und man hatte ihn dazu gezwungen. Wahrscheinlich ist noch etwas anderes hinzugekommen. Etwas, das wir nicht wissen.«
    »Er hat von einem Buddha erzählt, der weinte. Longsela soll von ihm geträumt haben. Aber wie kann Sonam das wissen? Ich meinerseits sehe in dem weinenden Buddha ein Symbol für die Repression in Tibet. Die Chinesen lassen ja der Polizei freie Hand.«
    Chimie verzog keine Miene.
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
    Ich seufzte.
    »Du hast mir sehr geholfen. Ich danke dir, Chimie.«
    »Keine Ursache. Mir scheint, du bist ganz schön verunsichert.«
    Chimie sah auf ihre elegante Markenuhr und wedelte mit der Rechnung. »Ich muss leider weg. Übrigens, wenn Kelsang dich im Traum mit einem Gewehr bedroht, heißt das womöglich, er will nicht, dass du eine ganz besondere Sache über ihn erfährst.«
    Ich starrte sie an.
    »Chimie, warum bist du eigentlich Geschäftsfrau geworden?«
    Sie ließ die Perlenzähne blitzen und griff nach ihrem Trench.
    »Weil man in der Psychiatrie schlecht verdient. Und am Ende selbst einen Dachschaden hat. Ich verzichte gern.«
    Orakel muss man deuten. Ich verbrachte die nächsten Tage, von den Nächten ganz zu schweigen, mit morbiden Mutmaßungen und in widerwärtiger Unentschlossenheit. Dann griff ich zum Handy und wählte die Nummer des Klosters. Wie üblich musste ich mich ziemlich lange gedulden, bis
Kelsang ans Telefon kam. Ich sagte, dass ich mit ihm sprechen wollte, und fühlte, wie er zögerte. Schließlich sagte er: »Samstag um halb elf, wie das letzte Mal. Aber ich habe nicht viel Zeit.«

EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    A m Samstag regnete es noch immer; die Straße zum Kloster war glitschig und schwarz wie eine Schlange. Das Herbstlaub verfaulte, und die Gebetsfahnen hingen wie armselige Lumpen herab, kaum, dass noch ein Rest Farbe an ihnen sichtbar war. In der Halle schlurften

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