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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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erste Stein ist schwer, der zweite auch. Am Abend flennst du, weil dir alles wehtut. Aber im Laufe der Zeit gewöhnst du dich daran.«
    »Ihr habt fünf Jahre lang Steine geschleppt?«
    Ihre Antwort klang betont gleichmütig.
    »Ich bin ein paar Mal ausgerissen. Sie haben mich jedes Mal eingefangen und bestraft.«
    »Und Kelsang?«
    Sie zog eine Grimasse.
    »Kelsang? Ich hätte nie gedacht, dass er so viel Mumm in den Knochen hätte. Aber er fand eine gute Gelegenheit und nutzte sie.«
    »Und was war mit Lhamo?«
    »Die blieb im Lager bei einem der Soldaten. Sie war klüger als ich. Du hast ja meinen Rücken gesehen.«
    Ich entsann mich meines Versuchs, mit Kelsang zu reden. Ich war mir recht blöde vorgekommen. Dieser sonderbare Monolog, als ob er sich aufs Glatteis begab, die Selbstvorwürfe, die erbauliche Story vom Tränen vergießenden Buddha. Das ganze Vokabularium der Mönche, und Kelsang dahinter, der sich zurückzog und unsichtbar wurde. Was hatte er noch gesagt? Ach ja, dass Sonam ihm verboten hätte, irgendetwas Genaues darüber zu sagen. Ich sollte die Geschichte nicht kennen, und Punkt. Es hörte sich an, als ob er Angst vor ihr hätte, und gleichzeitig irgendwie beleidigt, dass sie so viel Macht über ihn ausübte. Irgendetwas wirklich Eigentümliches schwebte zwischen den beiden. Es war, als ob beide hinter der Tür standen, jeder hinter seiner, und beide warteten, dass die Tür endlich aufsprang. Warum konnte ich es nicht sein, die diese Tür aufstieß?

    »Und du?«, fragte ich. »Hast du nie den Mut verloren?«
    »Nein. Ich war ein Dickschädel. Und ich hatte ja die Dzi-Steine.«
    »Ach ja, die Dzi-Steine!«
    Versagt die Vernunft, heben Märchen den Verstand aus dem Dunkel. Man klammert sich an das, was man hat, meinetwegen an eine Halskette. Und dann rettet man sein Leben und bekommt alles, worauf man aus ist.
    Meine Erwiderung fiel entsprechend höhnisch aus.
    »Mir ist allerdings aufgefallen, dass sie nicht immer wirken.«
    Sie antwortete auf eine sanfte, traurige Art, sodass ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam.
    »Wenn man keine Kraft mehr hat, ja, dann kommt es vor, dass man den Glauben verliert. Longsela war am Ende, und Kanam auf seine Weise auch, sodass er jede Gefahr herausforderte. Sie sahen in der Zukunft keinen Sinn mehr, nicht einmal in der gemeinsamen Zukunft. Ich würde meinen, dass beide an gebrochenem Herzen starben.«
    Ich schluckte.
    »Ich verstehe. Es tut mir leid.«
    Sie drückte den Rücken ein, rieb sich die schmerzende Stelle.
    »Es soll dir auch leidtun. Takt war und ist für dich ein Fremdwort. Und jetzt verschwinde. Ich muss schlafen.«
    Ich sah auf die Uhr. Zwei Uhr nachts. Na klar doch, sie war müde. Ich nahm meinen Autoschlüssel aus der Handtasche.
    »Amla, die Geschichte geht mir unter die Haut. Aber darauf kommt es nicht an. Ich weiß immer noch nicht, was ich eigentlich wissen will.«
    Sie schleppte sich vor mir die Treppe hinunter. Im Halbdunkel wandte sie mir ihr bockiges Gesicht zu.
    »Es gibt eben Dinge, über die man nicht reden kann.«
    Ich fuhr in der kalten, regnerischen Nacht durch Zürich. Sonam
hatte drei Stunden lang erzählt, wie in Trance, hatte nicht einmal einen Schluck Wasser getrunken. Über ihre Mutter wusste ich jetzt alles; ich wusste sogar, wie sie mit ihrem Liebhaber im Bett lag. Aber über sie selbst, über Sonam, wusste ich kaum mehr als zuvor. Ihr Mund hatte gesprochen, aber ihr Körper erzählte eine andere Geschichte. Welches Drama, welches Geheimnis erzählte ihr zerschundener Rücken? Was hatte sie erlebt? Was hatten Kelsang und Lhamo erlebt? Die Vergangenheit holte mich ein, schlug mir ihre Kälte ins Gesicht. Ein normales Leben spielte sich in einem vernünftigen Kreislauf ab, aber ich trug die Schrecken der Ahnen in mir, ihre verzweifelten Gedanken, ihre Furcht. Weil man sie verrückt gemacht hatte, wollte ich nicht auch verrückt werden. Ich hätte ihnen sagen können, dass alles vorübergeht, wenn ich selber Zeit gehabt hätte, das zu lernen. Ich musste mir sagen, dass ich, außer Baupläne auf dem Monitor zu berechnen, nichts vom Leben gelernt hatte und nicht weniger kindisch war als Jahre zuvor, als ich das Gymnasium zum ersten Mal betreten hatte. Die Verstorbenen waren stets da gewesen, hatten mir über die Schulter geschaut. Ihr Leiden war in dieser Zeit nicht ständig gleich heftig gewesen. Manchmal verstärkte es sich, und manchmal flaute es ab, sodass ich sie vorübergehend vergessen konnte, was gewiss gesünder war.

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