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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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erschossen. Ich glaube nicht, dass auch nur einer überlebt hat.«
    Ein langes Schweigen folgte; sie blickten einander an, mit der gleichen Qual in den Augen.
    Dann brach Longsela das Schweigen.
    »Tot … Alle … die ich liebte … sind verschwunden oder tot!«

    Er sah sie lange an. Der Schatten, der in seine dunklen Augen stieg, war unendlich sanft.
    »Hast du niemanden mehr?«
    »Einen jüngeren Bruder noch, der in Nepal lebt. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Aber vielleicht …
    »Die Grenze nach Nepal ist geschlossen. Für wie lange, weiß keiner.«
    Longsela griff sich an die Stirn, wo ihre Kopfschmerzen wieder aufflackerten.
    »Ich werde nach Shigatse reiten. Die Schwiegereltern wissen noch nicht, dass ich Witwe bin.«
    »Longsela …«, begann er gepresst.
    Sie legte ihm rasch die Finger auf die Lippen.
    »Nein, sage es nicht.«
    Er seufzte.
    »Wie du meinst. Wann willst du los?«
    »Noch heute«, sagte sie in festem Tonfall.
    »Gut. Mit Phurbu bist du in Sicherheit.«
    »Phurbu? O nein! Er will mit dir kämpfen!«
    Er lächelte flüchtig.
    »Ich kann ihn gebrauchen. Tashi hält große Stücke auf ihn. Aber du sollst nicht allein reiten. Ich werde dir zwei Männer als Eskorte mitgeben. Es wird bald schneien, und sie kennen den Schnee.«
    »Du kannst keine Männer entbehren.«
    »Diese beiden da schon. Sie wurden schwer verletzt und sind halbe Krüppel. Doch ihr Stolz ist intakt. Diese Aufgabe wird sie nicht demütigen.«
    »Ich danke dir.«
    »Uns würden sie aufhalten.«
    »Ich verstehe. Wir werden langsam reiten.«
    Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht - eine Geste der Unsicherheit -, bevor er sagte: »Wirst du mir gegenüber eines Tages anders empfinden?«

    Ihr zu ihm emporgewandtes Gesicht gewann ein wenig Farbe.
    »Gefühle lassen sich nicht lenken. Aber dir gegenüber werden sie sich nicht ändern.«
    »Longsela«, fragte er, »willst du auf mich warten?«
    Sie erwiderte fest seinen Blick.
    »Ja, ich warte auf dich.«
    Seine Züge entspannten sich. Erleichterung war deutlich aus seinem Gesicht abzulesen.
    »Wenn dies alles vorbei ist, komme ich zu dir. Es ist ein Versprechen, Longsela. Es sei denn, mich erwischt eine Kugel. Oder Schlimmeres …«
    Ihr Blick flog über sein kupferfarbenes Gesicht. Sprechen konnte sie nicht. Er streckte die Hand aus, berührte die Dzi-Steine, die sich mit ihren gepressten Atemzügen leicht hoben und senkten.
    »Bitte die Dzi-Steine, dass sie unseren Wunsch erfüllen.«
    Sie nickte wortlos. Er sagte: »Ein Mann braucht eine Frau, an die er denken kann. Auch in der Stunde des Todes.«
    Sein Körper war ihr so nahe, dass seine Wärme selbst durch die feuchten Kleider zu ihr drang. Ein letztes Mal riss er sie in seine Arme. Es war ein verzweifelter, inniger Kuss, und sie zogen ihn in die Länge, doch vor dem Haus wurden bereits Stimmen laut; Schritte und Pferdegetrappel waren zu hören. Fast gewaltsam machte sich Kanam von ihr los. Nach während Longsela ihm halb die Arme entgegenstreckte, griff er nach seinem Gewehr, warf die Satteltasche über die Schulter. Schon wandte er sich ab, stieß mit einem Fußtritt die Tür auf. Der heftige Luftstoß, der Kanam gebracht hatte, holte ihn auch wieder, mit dem Unterschied, dass sich jetzt Schneeflocken im Wind drehten. Für den Bruchteil eines Atemzugs verwandelte sich Kanams Gestalt. Kein in Einzelheiten dargestellter Körper mehr, sondern ein Schatten, der Schatten des Engels, der Longsela an der Schwelle des Todes erschienen war. In der
Düsternis rings um ihn herum kreisten Flocken; zu schnell für das Auge war ihr Flimmern und Drehen, und sie lösten ihn auf und trugen ihn davon. Und dann war er verschwunden. Die Tür fiel zu, und Longsela stand da und starrte auf diese Tür, lange Zeit.

NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    N ahezu ein halbes Jahrhundert später, in diesem Reihenhaus in Zürich, wo die Welt so vertraut, so kleinbürgerlich geordnet war, strich aus eisiger Ferne der Wind an meinem Gesicht vorbei. Ein Umhang hob sich, wie zu Flügeln geformt, und wehte empor. Die Flocken fielen frei herab, bewegten sich auf mich zu, bevor das Bild verblasste, zusammenschrumpfte, sich in der Vergangenheit verlor. Ich trug es in der Pupille, das Nachbild, als Sonam - meine Mutter - endlich schwieg. Wie lange hatte sie gesprochen, im gleichen Tonfall, in der gleichen Lautstärke? Ich konnte es nicht sagen. Die Welt ging weiter, Jahreszeit um Jahreszeit, und nahm mit jeder Drehung das Schicksal der Kreaturen in ihre

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