Das Haus der Tibeterin
Flamme gleich, eine leuchtende Pracht, die für ein paar Momente einen Abgrund schrecklicher Finsternis erhellte. Diese Kraft bemächtigte sich ihrer Körper wie von selbst, hob beide wie auf Flügeln, bis sie zu einem pulsierenden Wesen zusammenwuchsen, das unter seiner Verwandlung bebte, sich verströmte, zur Ruhe kam. Danach lagen sie still, eine ganze Weile lang, trieben dahin, erschöpft und mit klammer Haut. Kanam hatte seinen Kopf an Longselas nackte Schulter gelegt. Sie spürte, wie müde er war, und streichelte ihn sanft.
»Schlaf!«, sagte sie zärtlich.
»Wie kann ich in deinen Armen schlafen?«
»Bald musst du Befehle geben. Und Entscheidungen treffen.«
»Und kämpfen!«, murmelte er.
Longselas Kehle zog sich zusammen.
»Schlaf nur! Ich bleibe wach.«
Da lächelte er.
»Bewacht die Herrin der Türkise meinen Schlaf, reite ich unversehrt durch Bleihagel und Bombengewitter.«
»Ach, Kanam«, seufzte sie, »spotte nicht dem Tod!«
»Ich spotte der Gefahr.«
»Glaubst du, dass du ihr entkommen kannst?«
»Die Chinesen foltern ihre Gefangenen, wenn du das meinst.«
Longselas leise, abgerissene Stimme spiegelte das lähmende Entsetzen, das sie bei seinen Worten befiel.
»Und kümmert dich das nicht?«
»Ich blicke schon lange in die Schatten.«
Longsela wandte das Gesicht ab.
»Den Gedanken kann ich nicht ertragen.«
Er spielte mit ihrem Haar, ließ es wie dunkle Federn über seine Finger gleiten.
»Ich möchte, dass du ihn erträgst«, sagte er.
Er streckte sich in den Decken aus und schlief dann ganz plötzlich ein. Sein Oberkörper lag auf ihren Arm; er tat ihr etwas weh, aber sie wollte den Arm nicht zurückziehen, aus Angst, ihn zu wecken. Auch sie schloss matt die Augen, erfüllt von der Erkenntnis, dass es Momente gab, in denen der Mensch, ob Mann oder Frau, ob stark oder schwach, Zuwendung und Schutz brauchte. Jeder Mensch musste sowohl Schutz gewähren als auch Schutz empfangen, sorgen und umsorgt werden. Und jetzt, als Kanam schlief, als sie sein Herz in der eigenen Brust klopfen hörte, wurde ihr deutlich, dass es wohl das Einzige war, das sie ihm geben konnte: etwas Ruhe, etwas Trost. In dieser Zeitspanne war er auf ihren Schutz angewiesen, gehörte er ganz ihr. Im Nebenraum schliefen auch die anderen Männer, aber irgendwann in der Nacht wurde es ganz still; es war eine Stille, die Longsela glauben ließ, die Erde habe ihre Drehung verlangsamt und die Nacht sich heimlich über die ganze Menschheit gelegt. Longsela wollte wach bleiben, sich nur ein wenig liegend erholen. Sie zog die Decke über Kanams nackte Schulter und schloss die Augen.
Erstaunt setzte sie sich auf, als ein lang gezogenes Geräusch an ihre Ohren drang. Es kam aus der Ferne, verstärkte seinen Rhythmus, kreiste in der Dunkelheit. Die Hähne!, fuhr es Longsela durch den Sinn. Sie hatte also doch geschlafen. Ja, die Hähne kündigten den Morgen an, selbst wenn die Sterne noch leuchteten. Auch Kanam hatte sie gehört. Longsela fühlte, wie
er sich regte, und sah zur Seite. Der Umriss seines Gesichts zeichnete sich im fahlen Dämmerlicht ab.
»Es wird Zeit«, murmelte er. »Wir müssen reiten.«
Er flocht sein Haar mit raschen, geschickten Bewegungen, knotete das rote Garn am Hinterkopf fest. Mit gleitender Bewegung war er wieder auf den Beinen, zog seine Kleider von der Leine. Longsela beobachtete ihn, mit zugeschnürter Kehle.
»Sind sie schon trocken?«
Er sah sie über seine Schulter an.
»Ich bin warm genug. Sie werden an mir trocknen.«
Er grinste dabei, sodass sie ihn verstand. Sie wandte scheu das Gesicht ab, griff tastend nach ihren Kleidern. Inzwischen stieg Kanam in seine Stiefel und schnallte den Gürtel mit dem Kurzschwert um. Dann wandte er sich wieder ihr zu. Ein paar Atemzüge lang standen sie einander stumm gegenüber. Langsam streckte er die Hand aus, berührte zärtlich ihr Gesicht.
»Wohin gehst du jetzt?«, fragte er.
»Ich muss Dawa Rimpoche in Sera aufsuchen und ihm sagen, dass unsere Mutter … nicht mehr am Leben ist.«
Sein Gesicht wurde steinern.
»Kanam … was ist?«, fragte sie angsterfüllt, als er schwieg.
Er umfasste ihre Schultern, zog sie an seine Brust.
»Longsela, das Kloster wurde verwüstet.«
Sie wich leicht zurück und starrte ihn an. Sie fühlte, wie sich alles in ihr verkrampfte. Als ob sie bereits ahnte, was er sagen würde. Trotzdem fragte sie: »Und mein Bruder? Weißt du, ob er …«
Er schüttelte traurig den Kopf.
»Alle Mönche wurden
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