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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Onkel Kelsang.«
    Das Schaukeln hörte abrupt auf. Eine Spur von Erschrecken zuckte um seinen Mund.
    »Ja, Dolkar? Was denn?«
    Während ich zu ihm sprach, sah er mich an, mürrisch ernst und düster. Plötzlich eine unerklärliche Gefühlsregung. Seine Lider zuckten wie geblendet.

    »So«, murmelte er. »Habe ich dich bedroht?«
    »Mit einem Gewehr. Und du hast ›Peng!‹ gesagt.«
    Ich dachte bei diesen Worten, dass ich unverbesserlich war und alle Leute vor den Kopf stieß, selbst hier, wo Buddhas Milde herrschte. Aber ich wusste nur zu gut, was ich wollte: kein doppeldeutiges Geschwätz mehr, sondern Klarheit.
    Er indessen sah mich an, mit verkniffenen Wangen, bevor er sich seufzend zurücklehnte.
    »Das Grässliche an der Vergangenheit ist, dass sie völlig unvermittelt und heftig wieder aufplatzt. Wir sind erwachsen und wissen das, aber unsere Erkenntnis wird durch verkrampfte Emotionen gehemmt. Wir wollen das Gute und stolpern über unser Versagen.«
    Schon wieder die Phrasen. Ich hatte es satt.
    »Wenn du die Sache mit Frau Wong meinst …«
    Sein Kinn zitterte. Er hob lebhaft die Hand, sodass sie einen Schatten auf sein Gesicht warf.
    »Wir nannten sie Tante Ling. Sie und ihr Mann liebten uns wie eigene Kinder. Der barmherzige Buddha vergibt mir vielleicht ihr Blut, wenn auch Sonam es mir nicht vergibt, und ich mir selber auch nicht. Ich trage eine Geografie des Grauens in mir. Alle Irrwege der Niedertracht, der Verblendung, führen durch mein Gewissen. Ich machte mich auf den Weg, als ich Buddha weinen sah. Ach, wie steil und beschwerlich sind die Pfade der Menschen! Keine Engelsflügel tragen mich empor. Buddha wird mir Seelenfrieden schenken, wenn ich den Gipfel erreiche, aber niemals vorher. Und der Gipfel ist weit.«
    Wie du reden kannst!, dachte ich. Aber hör jetzt mal auf, du wiederholst dich ja nur. Vielleicht merkst du nicht einmal, dass diese Wörter alles verdrängen, was du dir vorgenommen hast mir zu sagen.
    »Also gut. Und daraufhin bist du Mönch geworden?«

    Er antwortete vollkommen sachlich.
    »Träume sind Vorahnungen oder Rückbesinnungen. Ein moralisches Signal, ja, allerdings. Das Gesetz der Abfolge, begreife wenigstens das.«
    »Trotzdem …«, begann ich.
    Eine heftige Bewegung plötzlich.
    »Du verstehst mich nicht!«
    »Wie sollte ich auch?«, blaffte ich wütend zurück, »wenn du nie etwas sagst?«
    Schweigen. Ich schämte mich plötzlich. Was ich in seinen Augen sah, war wie Todesangst, wirklich und wahrhaftig wie Todesangst. Dann griff er tastend nach der Thermoskanne, goss mir frischen Tee ein. Ich dankte ihm kleinlaut und nahm einen Schluck. Er setzte sich wieder zurecht, legte die Robe akkurat in Falten.
    »Also, reden wir darüber. Die Mola, erinnerst du dich? Sie dachte, solange sie im Haus blieb, solange die Dienstboten sie schützten, würde ihr nichts geschehen. Uns hatte sie zu Tante Ling geschickt, weil sie uns in Sicherheit wissen wollte. Und dann drangen die Jungkommunisten in das Haus ein, trugen alles weg und ermordeten die Dienstboten, die sich ihnen in den Weg stellten. Sie schlugen die Mola, traten sie mit Füßen, sodass sie kopfüber die Steintreppe herunterfiel. ›Du fette alte Ausbeuterin‹, schrien sie. ›Jetzt sollst du erleben, wie es ist, wenn man hungert!‹ Dann sagten sie: ›Die Partei beschlagnahmt das Haus, und du kannst jetzt im Stall wohnen. Mitnehmen darfst du nur, was in diese Schubkarre passt. Alles andere gehört dem Volk.‹ Und am nächsten Morgen stürmten sie zum Norbulingka. Sie rissen Onkel An Yao im Schlafanzug aus dem Bett, zerrten ihn zum Fluss und kamen ohne ihn wieder zurück. Kinder sehen alles, wie in Tücher eingewickelt. Ich wusste nicht, was sie mit ihm gemacht hatten. Dann begannen sie, Tante Ling mit Gewehrkolben zu schlagen und mit Fußtritten zu traktieren. Sonam wollte sie schützen. Sie
war schon damals mutig, musst du wissen, viel mutiger als ich. Sie schrie und schrie und spuckte die Soldaten an. Lhamo versuchte vergeblich, sie zu beruhigen. Auch sie wurde geschlagen. Mir aber drückte man ein Gewehr in die Hand. Kannst du dir vorstellen, wie kalt und schwer so ein Gewehr sich anfühlt? Ich sah den Mann, der es mir gegeben hatte, verwundert an. Was sollte ich mit seinem Gewehr? Der Mann lächelte, nicht unfreundlich, ein bisschen schuldbewusst nur, ein bisschen übermütig und ein bisschen spöttisch. Ich sehe sein Lächeln noch heute, es verfolgt mich im Traum. Tante Ling lag mit zerrissenen Kleidern im Staub.

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