Das Haus der Tibeterin
war eine Leine mit Gebetsfahnen geknüpft, die schlaff in der windstillen Luft hingen. Ein großes Bild Seiner Heiligkeit stand auf einem vergoldeten Altar, mit den Silberschalen und den Kerzen. Die Amla hatte einen ähnlichen Hausaltar, viel weniger prunkvoll allerdings. Ich selbst kam mit einem kleinen und sehr schlichten aus. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Um halb elf, hatte Kelsang gesagt. Ich war zu früh. Ich setzte mich und blätterte zerstreut in ein paar Informationsschriften. Eine Thermoskanne mit Buttertee und einige Becher standen für die Gäste bereit. Meine Kehle war trocken, aber als höfliche Tibeterin wartete ich, bis mein Gastgeber kam. Die Zeiger meiner Uhr rückten auf halb elf, als sich die Tür öffnete und Kelsang erschien. Großartig, dachte ich, wie immer auf die Sekunde pünktlich! Ich stand auf, legte die Hände in Brusthöhe zusammen und verbeugte mich, eine Huldigung, die ich ihm als Mönch schuldig war. Er legte mir leicht
die Hand auf den Kopf und murmelte einen Segensspruch, bevor er zu einem Stuhl ging und sich setzte. Dabei zog er das linke Beim ziemlich stark nach. Er hatte eine schlimme Hüfte, sagte die Amla, was auch immer sie darunter verstand.
»Wie geht es Sonam?«, war das Erste, was er fragte.
»Ach, eigentlich wie immer.«
Er zog die Brauen zusammen.
»Ihretwegen wolltest du mich doch sehen! Oder habe ich dich falsch verstanden?«
»Nein, keineswegs«, sagte ich.
Als Heranwachsender war Kelsang an Pocken erkrankt, sodass seine Wangen lauter kleine Narben aufwiesen. Ich betrachtete das braune Gesicht, den braunen Hals, die nackte braune Schulter. Die Wangen waren unter den Backenknochen eingesunken, die kohlschwarzen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Es war ein hartes, aber empfindsames, ein leidendes Gesicht. Die Nase hatte einen edlen Schwung, die Lippen waren fest zusammengepresst. Es musste stimmen, was Sonam gesagt hatte. Einst musste er ebenmäßige, ja anziehende Gesichtszüge besessen haben. Aber jetzt war er alt, sein Haar war geschoren, Stoppeln wuchsen weiß nach. Seine feingliedrigen Hände waren rau von der Arbeit und verformt - die Arthrose. Seine nackten Füße steckten in Sandalen. Er hatte keine Fußnägel mehr, nur Wülste. Eine Krankheit vermutlich. Er saß krumm, hielt den schmalen Kopf etwas zur Seite geneigt. Ich bin hier, schien seine ganze Haltung zu sagen, und vergeude meine Zeit mit dir.
»Und du hast mich etwas zu fragen?«
Er hatte diese besondere Art zu sprechen, abgehackt, erstickt. Er sprach die Interpunktion sozusagen mit, was seinen Worten etwas Steifes verlieh.
Ich saß an der anderen Tischseite auf einem wackeligen Stuhl. Das Wackeln machte mich nervös. Ich hätte jetzt Chimies
Rat befolgen und langsam, vorsichtig zum Kern der Sache kommen sollen. Aber impulsiv, wie ich nun mal war, entschloss ich mich zum Frontalangriff.
»Onkel Kelsang, die Amla hat den Rücken voller Narben. Ich habe das nicht gewusst. Was war mit ihr?«
Sein Gesicht blieb unbewegt; er verlagerte nur sein Körpergewicht auf beide Füße. Es war, als ob er sich leicht duckte, um einen Schlag abzuwehren.
»Hat sie dir die Narben nie gezeigt?«
Ich spürte, wie mein Mund nervös zuckte.
»Nein. Ich erfuhr es von einem Arzt.«
Er nickte, versunken und doch auf seltsame Weise angespannt. Schließlich sagte er: »Du solltest mit ihr darüber reden, nicht mit mir.«
»Soll das heißen, dass du nichts weißt oder dass du nichts sagen willst?«
Er blickte an meiner Schulter vorbei. Er war alt und verbraucht. Und doch war etwas funkelnd Lebendiges in ihm, etwas Wachsames.
»Nun«, sagte er, »sie hat Schweres durchgemacht. Bevor wir fliehen konnten, geschah viel Unerfreuliches. Wir lebten in ständiger Angst, dass wir den morgigen Tag nicht mehr erleben würden. Selbst die Berge, die das Lager umgaben, schienen bereits zum Totenreich zu gehören. Es war eine Landschaft für die Götter. Wir aber erlebten, wie die Götter höherschwebten, sich zurückzogen, die Welt kalt und kahl hinterließen. Etwas Entsetzliches vergiftete die Erde. Wir sahen mit eigenen Augen, wie die Welt sich veränderte und wir sie nicht mehr erkannten. Das Böse, das überall war, zuckte und sang auch in uns. Was konnten wir tun? Wir waren nur Kinder. Und Beten war uns fremd geworden.«
Der Stuhl unter mir wackelte. Ich setzte mich gerade hin. Was er sagte, kam unerwartet. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Ich spürte ein Frösteln aus dem Zwerchfell, das langsam
meinen ganzen
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