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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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ihn nicht gesucht, das war es ja eben.«
    »Onkel Kelsang, ich möchte so gern wissen …«
    Er zog die Falten seiner Robe zurecht, die nach Weihrauch roch. Seine Gebetsschnur, aus kleinen Knochenstückchen geschnitzt, klirrte leise.
    »Frag Sonam. Nicht mich.«
    Er wirkte erschöpft und so viel älter als seine Schwester, obwohl er jünger war. Ich fühlte mich plötzlich schuldig. Ich hatte ihn gezwungen, sich an böse Dinge zu erinnern.
    »Ach, Onkel Kelsang, es tut mir leid.«
    Er zog sich schwerfällig aus dem Stuhl, indem er mit beiden Händen die Armlehnen packte.
    »Es braucht dir nicht leidzutun. Und das da jetzt, das habe
ich verdient, weil ich geglaubt habe, was die Menschen sagen, bevor ich glaubte, was Buddha sagte. Eine Zeit lang ging es mir deswegen sehr schlecht.«
    Ich erhob mich ebenfalls.
    »Und … geht es dir jetzt besser, Onkel Kelsang?«
    Sein Bein knickte leicht unter ihm ein, und er hielt sich am Tisch fest. Er hatte wieder diesen funkelnden, in sich versunkenen Blick. Ein Blick, dachte ich, wie ihn die Asketen haben. Er sagte: »Wenn mein Glaube stark genug ist, wird es mir besser gehen.«

FÜNFTES KAPITEL
    V on jetzt an bestand meine Verwirrung darin, nicht zu wissen, wo ich anfangen sollte. Da war irgendwo ein Faden; an dem hatte ich gezupft, und etwas war im Begriff, sich aufzulösen. Was ich von Sonam wusste, war, dass Kelsang sich in der Schule von seinen chinesischen Lehrern hatte beeinflussen lassen. Ich fand, das war keine Sache, die man ihm nachtragen konnte. Und soviel ich verstanden hatte, trug Sonam sie ihm auch nicht nach. Aber die Welt, in die beide damals geraten waren, konnte ich mir nicht vorstellen. Kelsang würde wohl sein ganzes Leben brauchen, um die Vergangenheit zu bewältigen. »Buddha weint, ich habe ihn weinen gesehen«, hatte er gesagt, und nicht nur einmal. Wörtlich konnte ich ihn natürlich nicht nehmen, und seine Neurosen musste ich akzeptieren. Im Grunde war er ein völlig gebrochener Mann, ein Wrack, der das Böse hinter jedem Fenster sah.
    Am nächsten Morgen rief ich die Amla an.
    »Kann ich zum Mittagessen kommen?«
    »Schön, dass du anrufst«, sagte sie. »Ich habe ein Huhn gebraten, das zu groß für mich ist.«
    Obwohl gläubige Buddhisten kein Fleisch essen sollten, hielten sich die Tibeter weniger streng an die Regel. Die Kälte und die Hitze des Hochgebirges, die harten Lebensbedingungen waren schuld, dass die Menschen viel Energie verbrauchten. Sie mussten Fleisch essen, um zu überleben.
    Ich für meinen Teil mochte Fleisch. Die Amla kochte gut.
Und wenn ich bei ihr nichts erreichen konnte, gab es immerhin Huhn.
    Zürich war sonntags angenehm leer. Ich ging zu Fuß. Entfernungen machten mir nichts aus. Der Stadtteil, in dem ich einst gewohnt hatte, war ruhig und kleinbürgerlich. Zu den schlichten Reihenhäusern gehörten kleine Rasenflächen mit Wäscheleinen, winzige Gemüsegärten und Spielplätze. Kinder tummelten sich auf der giftgrünen Rutschbahn. Die Mütter, eingemummt wegen der Kälte, saßen auf Bänken stoisch dabei. Alles war friedlich, sonntäglich, bieder. Erinnerungen aus diesem Viertel waren mir nur deswegen im Gedächtnis geblieben, weil damals eine andere Welt für mich überhaupt nicht existierte. Eine kleine Welt innerhalb dieser Welt, die Geborgenheit gab. Mit zunehmendem Alter und Verstand bauen wir neue Kombinationen in unseren Lebenskreis ein. Nach und nach habe ich mich entfernt. Und als ich studierte, war es zwangsläufig vorbei.
    Ich hatte noch einen Hausschlüssel. »Man kann nie wissen, vielleicht hast du ihn mal nötig«, hatte die Amla gesagt. Ich wusste genau, worauf sie anspielte: Wenn ihr mal was passierte, konnte ich jederzeit ins Haus. Ich kramte den Schlüssel hervor, während ich durch den kleinen Vorgarten ging und dann die drei Steinstufen hoch, die zur Haustür führten. An der Wand mit ihrem grauen Verputz waren Blumentöpfe aufgestapelt, daneben lehnte ein Fahrrad. Ich klingelte, wobei ich gleichzeitig den Schlüssel drehte. Als ich mich im Eingang bückte, um die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zu lösen, steckte die Amla den Kopf aus der Küchentür.
    »Wir können gleich essen.«
    Ich zog meine Jacke aus. Das Haus war düster, überall lag Zeug herum, und es roch nach Bratfett. Meine Eltern hatten eine Vorliebe für überdimensionale Möbel gehabt, die gar nicht in die kleinen Räume passten: ein großes Sofa mit großen Sesseln, einige schöne tibetische Teppiche, rubinrot und grün,
ein gewaltiger

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