Das Haus der Tibeterin
Körper überzog. Er indessen sprach weiter, wie zu sich selbst.
»Was diese Sache betrifft, war ich eine Zeit lang nicht sehr einsichtig. Ich würde nur zu gern den abgespulten Faden wieder aufwickeln zu einem Knäuel. Ich träume davon, dass die Zeit sich erbarmen lässt, dass die Wiedergeburt nicht nur im Großen gewährt wird, sondern auch als tägliches kleines Geschenk. Ein Neubeginn, der uns freispricht, während die Tiefe Verfehltes verschlingt. Nur darauf kommt es an, verstehst du?«
Er zog das merkwürdige Bekenntnis aus sich heraus wie das Mark aus den Knochen. Nicht, dass ich etwas begriffen oder durch logische Gedanken gefolgert hätte, aber die Unruhe in mir verstärkte sich, begleitet von einem Zittern des Körpers, bis mir der kalte Schweiß ausbrach.
»Was versuchst du mir zu sagen, Onkel Kelsang? Dass du die Sache mit Sonam verschuldet hast?«
»Vielleicht hätte ich es verhindern können. Aber ich habe mich nicht eingemischt.«
»Warum nicht?«
Jeder hatte sein Vorher und Nachher, seine Ausreden, die Vorstellung, dass er es hätte besser machen können. Er aber sprach mit müder, unheimlicher Gewissheit, bar jeder Illusion und jeder Hoffnung.
»Weil ich dachte, dass es sein musste. Und wenn sie starb, dann war das eben … weil sie ungehorsam war.«
Ich starrte ihn an.
»Entschuldige, Onkel Kelsang. Aber ich verstehe dich wirklich nicht.«
Er starrte zurück, doch ich bemerkte, dass er mich eigentlich nicht wahrnahm. Seine Augen waren ins Leere gerichtet, oder auf einen Punkt in seinem Innern, den nur er sah.
»Ich weiß noch heute nicht, wie es kam, dass ich alles tat, was sie sagten. Sie steckten mich in eine Uniform, drückten mir ein Gewehr in die Hand. Sie sagten, du gehörst zu uns,
wir beschützen dich und helfen dir. Bei uns hast du täglich zu essen. Ich bekam sogar eine Decke, nachts, wenn es kalt war. Eine Decke konnte darüber entscheiden, ob man am Leben blieb oder nicht. Es war noch vor der Kulturrevolution, schon damals versuchten sie uns dazu zu bringen, dass wir nur noch das taten, was sie sagten. Heute wollen sie es nicht mehr wahrhaben, was sie damals anrichteten. Sie trugen keine Entwicklungsmöglichkeit in sich. Selbst Buddha gab sie auf. Ich habe ihn weinen sehen. Die Tränen flossen aus seinen Augen.«
Wieder wackelte der Stuhl. Ich lehnte den Oberkörper nach hinten.
»Wer hat geweint? Buddha?«
»Das sage ich ja. Er gab sie auf. Er konnte sie nicht verschwinden lassen und bessere Menschen aus ihnen machen; das lag nicht in seiner Macht. Weil Buddha will, dass die Menschen es selbst tun, verstehst du? Er wusste, dass sie es nicht konnten. Ihr Einfluss wirkt noch heute, in vielen Teilen dieser Welt. Weil ihre Methoden so furchtbar erfolgreich sind. Weil den Menschen auf diese Weise alles genommen werden kann: Besitz und Rechte und Einfluss und Rang und Haus und Heimat und Wissen und Glauben und Liebe und Gesundheit. Alles, was den Menschen zum Menschen macht. Ich hatte meine Seele verloren, doch dann kam sie zu mir zurück, und ich sah Buddha weinen. Die Tränen liefen über sein Gesicht. Buddha weinte, du glaubst es nicht? Ich weiß es besser. Denn es hört nie auf. Das Böse kommt immer wieder und ist auch jetzt da. Ich kann es durchs Fenster sehen.«
Meine Blicke folgten unwillkürlich seiner deutenden Hand, sahen nichts, nur ein Stück nasse Wiese.
»Eigentlich sollte ich nicht darüber sprechen. Aber es geht mir nicht aus dem Kopf. Sie musste meinetwegen so schrecklich leiden.«
»Sonam?«
Seine Zähne schlugen an den Rand des Bechers.
»Ich war klug, ich lernte schnell. Aber Klugheit frisst ihre eigenen Kinder, die Klugen sind die Gefährlichsten. Ich hatte das alles vergessen wollen. Aber es geht nicht. So wie der Magen etwas erbricht, das ihm nicht bekommt, so muss auch der Geist die Vergangenheit erbrechen.«
Er wiegte sich leicht hin und her, starrte auf die Halluzination, die er selbst erzeugt hatte. Ich nippte an dem Buttertee, der nicht gut war.
»Onkel Kelsang, bitte erzähl mir mehr!«
Er fuhr leicht zusammen, schüttelte den Kopf.
»Nein. Es wurde mir verboten.«
»Verboten, von wem?«
Der Ton seiner eigenen Stimme gab ihm das Gefühl der Realität und der Gegenwart zurück.
»Von ihr natürlich. Von Sonam.«
»Dann werde ich von dir nichts erfahren?«
Er bewegte matt den Kopf.
»Von mir gibt es nichts zu erfahren. Wenn ich nur umkehren könnte, in die Vergangenheit, würde ich Buddha suchen und vielleicht finden. Damals habe ich
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