Das Haus der Tibeterin
Bücherschrank. Der altmodische Fernseher thronte, nach altmodischer Art, auf einem kleinen Tisch mit einem Spitzendeckchen. Neben dem Wohnzimmer befand sich der Gebetsraum. Auf seine Einrichtung war viel Sorgfalt verwendet worden. Hier duftete es nach Weihrauch und Äpfeln; während ich ehrfürchtig den Raum betrat, sog ich tief den Duft ein, der mich an meine Kindheit erinnerte. Der Altar, mit Früchten und Blumen geschmückt, war eigentlich eine hölzerne Wand, kunstvoll geschnitzt, mit verschiedenen Fächern und Vitrinen für die Kultgegenstände. Die vergoldete Buddhastatue, oben auf dem Altar, war schlicht und schön. Gleich darunter lehnte, in einem Rahmen aus Messing, ein vergrößertes Farbfoto Seiner Heiligkeit. In Zinngefäßen, die aus Indien stammten, flackerten kleine Flämmchen in zerlassener Butter. Die sieben kleinen Silberschalen waren mit Wasser gefüllt. Jeden Morgen vor dem Frühstück füllte die Amla die Schalen mit frischem Opferwasser, das abends wieder ausgeschüttet wurde. Das Wasser versinnbildlichte den menschlichen Geist. Unser Wesen sollte so transparent wie die Wasserhaut werden. Ich fand diesen Gedanken anschaulich und schön. Ehrfürchtig legte ich die Hände zusammen und flüsterte die heilige Formel: »Om mani padme hum« - »O Juwel im Herzen der Lotosblüte«: der Anruf an Buddha, das erste Gebet, das tibetische Eltern ihren Kindern beibringen. Beschwörungsriten dienen der Autosuggestion. Wir Tibeter glauben noch heute, dass nur gutartige Gedanken ausgesprochen und geschrieben werden sollten. In der Kunst wird das Böse nur dargestellt, wenn es bereits besiegt und zum Guten umgewandelt wurde. Jeder von uns bemüht sich, das Böse niemals wachzurufen. Es gibt eine große Notwendigkeit dafür: Wecken wir das Böse, verleihen wir ihm Kraft. Schlechte Gedanken bringen schlechte Taten hervor. Hass, Gewalt und Zerstörung gehören einem dunklen Zeitalter an, das wir nur verlassen können, wenn wir dem Bösen den Rücken kehren und das Wohl der anderen im Herzen
tragen. Aber es hieß auch, der Schlüssel zum Herbeirufen von Segnungen sei die Hingabe, die nur durch Traurigkeit und Entsagung erweckt werden konnte. Ich dachte, dass dieser Zustand sich wohl nicht einstellte, wenn man krampfhaft danach Ausschau hielt, nicht gezwungenermaßen dazu gebracht wurde. Ich spürte lediglich eine Ermutigung, eine Emotion, die lange noch nicht dieser Weisheit entsprach. Mir fehlte es an Disziplin.
In der Küche schmorte das Essen in altmodischen, aber blitzblank geputzten Töpfen.
»Riecht gut«, sagte ich und überreichte der Amla Pralinen aus einer teuren Konfiserie, die sie sich aus Sparsamkeit nie selbst gekauft hätte. Die hübsche Schachtel würde sie natürlich aufbewahren. Meine Mutter konnte sich von nichts trennen. Sie sammelte lauter kleine Dinge, die man »mal gebrauchen« konnte. Kriegsgeneration, dachte ich. Im ersten Stock befanden sich zwei Schlafzimmer. Die Schränke und Kommoden waren vollgestopft mit Zeug, sodass man die Türen fast nicht mehr schließen konnte. Immerhin war sie sehr ordentlich, jede Schnur war akkurat zusammengerollt, jede Schachtel, jede Dose diente irgendeinem Zweck und war pedantisch aufgestapelt. Sonam beschäftigte sich ständig im Haus, als ob sie Angst davor hätte, sich ruhig hinzusetzen. Daneben hatte sie sich in tibetischer Heilkunde ausbilden lassen und führte mit einer Freundin eine kleine Praxis. Ihre wenigen, aber treuen Patienten waren vorwiegend ältere Leute, die Kopfweh oder steife Gelenke hatten.
Sonam wollte nicht, dass ich ihr in der Küche half. Ich ging wieder hinaus und sah mich im Wohnzimmer um. An den Wänden Bilder des Dalai-Lama in verschiedenen Abschnitten seines Lebens, alte Zeitungsausschnitte, ein recht kitschiges Gemälde, auf dem der Potala-Palast in Lhasa zu sehen war, und zwei alte »Thanka« - bestickte Rollbilder aus Seidenbrokat. Hier und da steckten Heftzwecken, an denen Pferdebilder
befestigt waren. Neben einem Pferdekalender aus dem vergangenen Jahr, ein Geschenk von mir, hing in einem Messingrahmen ein altes Porträt meines Vaters in tibetischer Tracht. Ein gut aussehender Mann eigentlich, mit einem freundlichen Lächeln, der sich etwas vornübergebeugt hielt und einen Hut in den Händen hielt. Sonam, die aus der Küche kam und eine Schüssel brachte, sah mich vor dem Bild stehen.
»Damals war er vierzig Jahre alt. Und drei Jahre später war er tot.«
»War er damals schon krank?«
Sie stellte die Schüssel
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