Das Haus der Tibeterin
sind und wenn ich die Kinder vom Hauswart über meinem Kopf spielen höre.«
»Ja«, meinte ich, »was ist ein Haus ohne Menschen darin?«
Er lächelte erleichtert.
»Darum geht es ja. Sieh dir nur diesen Berg Papiere an! Ich habe sämtliche Schubladen ausgeräumt. Alte Briefe, Fotos, Urkunden, das ganze Leben meiner Eltern. Das Haus gehört jetzt mir. Kürzlich fragte mich der Inhaber der Treuhandgesellschaft, ob ich es ihm nicht verkaufen wollte. Aber ich habe so viele Erinnerungen hier, die wichtig für mich sind. - Kaffee?«, setzte er hinzu.
Während er sich in der Küche zu schaffen machte, ging ich in der Wohnung hin und her. Die Bilder an den Wänden waren wertvoll, die Bücher hatten lederne Einbände. Auf den Regalen standen Fotos. Kanam als Kind, mit diesem eigenwilligen Gesicht, das fast schon ein altes Gesicht war. Das Antlitz eines Kindes, das viel gelitten hat und es selbst nicht weiß. Dann die Adoptiveltern: Verena, mit festen, schön geformten Zügen und ungekämmtem blonden Haar. Sie lachte wie eine Frau, die gewohnt ist, ihren Willen durchzusetzen. Und gleichzeitig hatte sie etwas Empfindsames an sich. Sie war ein gutherziger, offener Mensch, ja, das sah man auf jedem Bild. Der Vater wies ein einfaches, kluges Gesicht auf, mit hoher Stirn und kurzer Nase, das mit der Zeit einen strengen Ausdruck angenommen hatte.
»Er stammte aus einer Hugenottenfamilie, die im siebzehnten
Jahrhundert in die Schweiz geflüchtet war und später zum katholischen Glauben übertrat«, sagte Kanam, der den Kaffee gebracht hatte und neben mir stand. »Er lachte selten, mein Vater, und das war schade. Wenn er lachte, leuchtete sein Gesicht. Er beherrschte fünf Sprachen, liebte Barockmusik, literarische Klassiker und Haferflocken. Er sprach langsam, wog die Worte und hatte noch bis ins Alter eine tiefe, weiche Stimme. Zu Anfang war Mutter sehr linksgerichtet, was ihm missfiel. Er sagte immer wieder zu ihr: ›Sei nicht blind, öffne die Augen!‹ Als ihr klar wurde, was China im Namen der Freiheit an Entsetzlichem anrichtete, nicht nur in Tibet, sondern auch im eigenen Land, da wurde sie sehr kritisch. Das ging so weit, dass sie begann, ihre früheren Idole als Kretins und sture Idioten zu beschimpfen. Sie hatte feste moralische Grundsätze, einen starken Gerechtigkeitssinn und ein loses Mundwerk. In ihrer Arbeit mit den Flüchtlingen fand sie eine Aufgabe, die ihr lag. Sie war in großartiger Weise hilfsbereit und tatkräftig. Sie hatte in Geschichte promoviert und in Lausanne ein paar Jahre lang internationale Zeitgeschichte gelehrt. Vater erzählte mir, dass Verena ihre Karriere mit zwei widersprüchlichen Voraussetzungen begonnen hatte: eine außergewöhnliche Intelligenz und kein Geld. Im Erfassen einer Situation war sie so flink wie in ihren Bewegungen. Ich tue meine Pflicht, pflegte Vater zu sagen, Verena aber tut Gutes.«
Wir setzten uns an den großen Tisch im Wohnzimmer. Der Abendhimmel leuchtete, das letzte Sonnenlicht fiel auf den Parkettfußboden, der wie Honig glänzte. Kanam goss Kaffee ein und schob mir Pralinen über den Tisch.
»Sie arbeitete für das Rote Kreuz, besuchte Auffanglager und kümmerte sich um Menschen, die aus politischen Gründen inhaftiert worden waren. Im Libanon wurde sie von der Geheimpolizei verhaftet, saß zwei Wochen im Gefängnis. Mein Vater setzte alle Hebel in Bewegung, bis man sie wieder freiließ. Er bangte sehr um ihre Sicherheit, da sie sich ja immer wieder in
Krisengebieten aufhielt. Aber sie war entschlossen, zu tun, was ihr Gewissen verlangte. Das war für sie immer klar gewesen, und sie hatte meinem Vater gegenüber auch nie den geringsten Zweifel daran gelassen. Ich möchte ihretwegen weitermachen. Sie war so tapfer, und es wäre für mich eine Art … eine Art Zeichen der Dankbarkeit. Dort, wo sie jetzt ist, wird es ihr bestimmt gefallen, dass jemand ihre Arbeit fortsetzt. Und weißt du was? Ich habe das Ziel vor Augen, mich irgendwann in den Dienst Seiner Heiligkeit zu stellen.«
»Das wird er zu schätzen wissen«, meinte ich.
»Ja, aber habe ich die Voraussetzungen dafür?«
»Meiner Ansicht nach wäre die richtige Frage: Wirst du die Bereitschaft dazu aufbringen?«
»Die Bereitschaft ist da, kein Problem.«
»Dann ist ja alles okay. Seine Heiligkeit wird sich freuen.«
Wir lachten beide, weil sich alles so naiv, ja beinahe absurd anhörte. Aber es ist schon so, dass Gedanken Flügel wachsen. Schenken wir ihnen Kraft, tragen sie uns hoch und weit. Kanam
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