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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Bewusstsein unseres Lebendigseins, die geschmeidige Glätte unserer Haut, die warme Decke, der violette Sternenglanz draußen auf dem Schnee. Unsere Liebe entsprang
dem uralten Wissen, dass wir uns schon in früheren Leben geliebt hatten und jetzt nur den Faden wiederaufnahmen. Und ich dachte, zwischen Traum und Wachsein, dass wir schon vorhanden gewesen waren, ungezeugt, ungeboren, als Longsela und Kanam der Rebell sich nur eine Nacht lang liebten, bevor das Schicksal sie auseinanderriss. Die damals entstandene Leidenschaft war noch nicht gestillt, würde wohl nie ganz gestillt werden. Unsere Hände, unsere Bewegungen aber wussten von ihr, auch unser Geist, der still und klar war, aber ohne Gedanken. Denn in uns lebte der Nachklang einer Liebe, die nicht sterben wollte, die lange gewartet hatte und jetzt eine neue Heimat fand.
     
    Am Sonntag brachte mich Kanam wieder nach Zürich. Ich hatte Sonam angerufen und ihr angekündigt, dass ich sie besuchen würde.
    »Und ich komme mit einer Überraschung; mach dich darauf gefasst.«
    »Deine Überraschungen«, erwiderte sie kalt, »sind manchmal von recht zweifelhafter Art.«
    »Ich bringe dir Kuchen mit. Aus Luzern.«
    »Was machst du in Luzern?«
    »Deine Mutter, wird sie mich mögen?«, fragte Kanam, als wir gegen fünf den Wagen in eine Parklücke zwängten.
    »Am Anfang darfst du nicht zu viel von ihr verlangen. Du musst Geduld haben. Den Kuchen, den mag sie auf jeden Fall. Sie kann nie genug davon kriegen.«
    »Und wenn sie mich nicht mag?«
    »Tja, dann soll sie ihren Kuchen allein essen.«
    »Warum in Gottes Namen bin ich bloß mitgekommen?«, fragte er stöhnend, aber mit einem Lächeln.
    »Weil du neugierig bist. Und weil du mehr über deinen Großvater erfahren willst.«
    »Wird sie mir von ihm erzählen?«

    »Glaub bloß nicht, dass du sie beeinflussen kannst. Auch nicht mit Luzerner Kuchen. Sie ist so herrlich unangepasst.«
    Wir stapften durch den knirschenden Schnee auf das Haus zu. Der Rauch aus vielen Schornsteinen stieg bleich und steil in die Luft. In der Ferne brodelte der Verkehr. Die Leute waren vom Spaziergang zurück, hatten Licht gemacht. Die Rechtecke der Fenster zeichneten sich als schwache Dämmerung in der einbrechenden Dunkelheit ab.
    Rutschend und strauchelnd gingen wir den kleinen Weg hinauf, und ich klingelte. David, etwas nervös, hielt das Kuchenpaket nahezu feierlich vor sich, als ob sich das zusammenbrauende Gewitter mit einer Gabe abwenden ließ. Ich hätte beinahe gelacht.
    Mutter öffnete. Sie trug tibetische Kleidung. Die Pangden, die Schürze der verheirateten Frauen, war eng um ihre schmale Taille geschlungen. Ihr wohlgeformtes Gesicht glänzte, vor allem die Stirn und die Wangen, und hatte die Farbe von dunklem Gold. Ihre Haut war nahezu faltenlos, wie die eines Mädchens. Ich bemerkte, wie kleingewachsen sie doch im Gegensatz zu Kanam war, mit einem fast dicken Kopf. Sie musste zu ihm aufblicken, doch sie tat es auf ihre übliche, gebieterische Art, wie eine Frau, die gewohnt war, dass auch großgewachsene Männer vor ihr kuschten. Doch etwas war nicht wie sonst; ich sah, wie ihr Gesicht leicht zuckte. Sie war aufmerksam geworden, ich sah es auf den ersten Blick.
    »Amla«, sagte ich, »das ist David Kanam von Garnier.«
    »Kanam?«, murmelte sie geistesabwesend.
    Er begrüßte sie in seiner unbefangenen Art, bat um Entschuldigung, dass wir so spät kamen. Seine Stimme hatte einen rauen Klang, etwas Jungenhaftes. Daran merkte ich, dass er verlegen war.
    »Mir wurde gesagt, dass Sie gern Kuchen mögen. Dies ist … eine Spezialität aus Luzern.«
    Er stockte und verlor den Faden, weil sie ihn so lebhaft anstarrte,
so forschend, so intensiv. Ihre großen, dunklen Pupillen bewegten sich dabei leicht hin und her. Als sie misstrauisch den Kopf hob, wurden die Augen mit einem Mal so durchsichtig wie Glas. Dabei leuchteten die Dzi-Steine an ihrem Hals, warfen ein paar gelbe Funken, deren Farbe in matte Schattierungen überging, bevor sie verschwanden. Und während sie Kanam betrachtete, veränderte sich ihr Ausdruck leicht. Das, was sie vielleicht befiel, war eher ein Ahnen als ein Erinnern, wie das plötzliche Sich-Auftun einer früheren Welt, das der Anblick des jungen Mannes in ihr erweckte. Lautlos, etwas vornübergebeugt, machte sie einen vorsichtigen Schritt, wobei sie die Augen halb schloss, um ihn besser sehen zu können.
    »Bist du Alos Enkel?«, fragte sie dumpf.
    Er nickte. Sprechen konnte er nicht. Sie stand ein paar

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