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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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schwere Krankheiten ausbreiten, die es früher kaum gab. Tuberkulose, Herzmuskelerkrankungen, Alkoholschäden, genetische Defekte.«
    Er stutzte, als sei er über sich selbst erstaunt.
    »Warum rede ich dauernd davon?«
    »Weil die ganze Tragik in dir steckt«, sagte ich.
    Er nickte vor sich hin.
    »Ja, sehr tief sogar.«
    »Kaffee?«, fragte ich nach einer Weile. »Komm, wir setzen uns da hinüber.«
    Wir brachten das Geschirr in die Küche. Ich stellte die Kaffeemaschine an, holte Milch und Zucker. Dabei bemerkte ich, dass meine Hände leicht zitterten. Ich brachte die gefüllten Tassen, stellte die Kerze auf den niedrigen Tisch mit der Glasplatte.
    Kanam sprach weiter.
    »Verena erzählte mir, dass sie im Lager sofort auf mich zugegangen sei. Ich hätte geschlafen und sie, als sie sich über mich beugte, angelächelt. Sie hob mich hoch, hielt mich fest in ihren Armen und liebkoste mich. Man sagte ihr, dass ich weder Eltern noch Verwandte hatte. Verena hätte mich am liebsten sofort mitgenommen. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, und bereits zwei Monate später durfte ich mit ihr in die Schweiz einreisen. Ich war so mager, dass man meine Rippen zählen konnte, hatte Keuchhusten und Hungerödeme, richtig dicke Eiterbeulen. Drückte man auf die Beulen, spritzte der Eiter raus wie Zahnpasta aus einer Tube. Stieß ich mich irgendwo
an und fiel, hatte ich sofort einen Knochenbruch. Eine Zeit lang machte ich eine Krankheit nach der anderen durch, war ständig in ärztlicher Behandlung. Verena musste mich richtig aufpäppeln, mit der richtigen Kost, mit Vitaminen, mit Heilbädern. Als ich in die Pubertät kam, hatte ich mich gut erholt. Ich trainierte Knochen und Muskeln: Basketball, Schwimmen und Skifahren. Ich habe sogar einen Snowboard-Wettbewerb gewonnen.«
    Der Kaffee war kalt geworden, die Kerze niedergebrannt. Kanam sah auf die Uhr und seufzte. Ich hatte ihm gesagt, dass ich am nächsten Morgen um neun wieder ins Büro musste.
    »Es tut mir leid, ich bin ein Schwätzer. Zeigst du mir das Gästezimmer?«
    »Muss das sein?«, fragte ich.
    Er sah mir in die Augen.
    »Nein, nicht unbedingt.«
    Das Lächeln auf seinen Lippen kam und ging. Er fühlte genau das Gleiche wie ich, war dabei aber vollkommen unbefangen. Mir war zumute, als ob ich wachend träumte. War ich seinetwegen nach Lhasa gefahren? Ich nahm seine Hand und hielt sie fest.
    »Hör zu, ich muss dir etwas sagen. Ich wollte schon immer Häuser bauen, eine neue Art von Architektur entwickeln. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Und seitdem ich in Tibet war, merke ich, dass ich andere Möglichkeiten habe, dass ich sozusagen auf die Dinge einwirken kann. Und seitdem ich dir begegnet bin, erlebe ich eine ganz neue Dimension … Es ist wie eine Art Schock. Als ob ich dich … irgendwie herbeigerufen hätte.«
    »Und jetzt bin ich da.«
    »Das ist eine große Botschaft«, sagte ich ernst und legte beide Arme um ihn. Es war ein Stromkreis zwischen uns. Er war von Anfang an da gewesen, ein lebendiges Feuer. Er nahm meinen Nacken in beide Hände, eine umfing meinen Hals, mit
der anderen strich er über mein Haar. Seine Lippen wanderten über meine Haut, über die Stirn, über Augenlider und Nasenflügel. Langsam, ganz langsam kamen wir einander entgegen. Wir wollten, dass unsere Herzen, unsere Körper einander spürten, wollten das Verlangen füreinander auskosten, mit jedem Atemzug. Der erste Kuss weckt Empfindungen, die entscheidend sind, der Mund bietet sich dar, der ganze Körper folgt diesem Gefühl, und das lebendige Feuer fließt dunkel von einem zum anderen. Es ist jedes Mal ein Taumel der Entdeckung, und manchmal geschieht ein Wunder. Wir küssten uns ohne Hast, wir hatten alle Zeit der Welt. Wir waren gefangen in einem Kreis warmer Zärtlichkeit, einander vollkommen verstehend. Geschöpfe aus einer fernen Welt, mit verletzten Seelen, ganz verwundert darüber, dass uns so viel Glück beschieden sein konnte. Wir waren noch etwas bange, weil wir nicht wussten, wie wir mit diesem Schatz der Zärtlichkeit umgehen sollten. Er gehörte uns ganz, dieser Schatz, aber für wie lange? Für einen Augenblick nur? Für die Ewigkeit? Es lag an uns, dies herauszufinden. Wir pressten uns aneinander bis fast zum Ersticken. Ich spürte seinen Schultern nach, die unter dem Hemd kräftig und warm waren, unversehrt und elastisch. Wir liebkosten uns, Stirn gegen Stirn, mit geschlossenen Augen. Dann hob er mich hoch und trug mich in mein Schlafzimmer. Er legte mich auf

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