Das Haus der Tibeterin
und ich genossen das berauschende Gefühl, unsere jungen Flügel zu erproben, und nahmen uns viel vor.
»Da wir gerade darüber reden,« sagte ich, »hätte Seine Heiligkeit vielleicht auch Verwendung für eine Architektin?«
Er erwiderte mein Lächeln.
»Architekten werden jederzeit gesucht. Die tibetische Exilregierung braucht mehr Unterkünfte für die Flüchtlinge, mehr Schulen, ein größeres Krankenhaus.«
»Weißt du, was ich augenblicklich baue?«, fragte ich.
»Ein Wasserwerk in Glatt-Brugg, wenn ich mich richtig entsinne.«
»Nein, ein Luftschloss!«
»Oh, das ist ja noch interessanter!«, meinte er.
»Du ahnst nicht, in welchem Maße«, erwiderte ich mit Nachdruck, und etwas in meiner Stimme ließ ihn aufhorchen. Er sah mich an, erwartungsvoll schweigend. Der Goldschimmer in seinen
Augen war berückend. Und in sein Schweigen hinein erzählte ich ihm von unserem Haus in Lhasa und von meiner Begegnung mit dem Mönch, der Buddha in einer Mauernische sah, in der sich nichts befand als kleine Steinchen und Schutt.
»Er sagte, wenn wir es ganz fest wollen, können wir die Dinge erschaffen, die wir sehen wollen. Zuerst habe ich ihm nicht geglaubt; ich dachte: Menschenskind, der spinnt doch! Aber nein, er sprach ganz sachlich. Es ließ mir keine Ruhe, ich wollte es mal versuchen. Ich dachte: Das ist verrückt, und so kompliziert! Es vergingen viele Tage - ich übte, und nichts geschah. Und gerade an dem Tag, an dem ich mir sagte: Das nützt ja doch nichts, da brachte ich etwas zustande. Und was der Mönch gesagt hat, das stimmt, so wahr ich hier auf dem Stuhl sitze: Visualisieren wir die Dinge, die wir sehen wollen, dann entstehen sie vor unseren Augen. Es ist eine einfache, direkte, persönliche Erfahrung. Du wirst es nicht glauben, aber sie funktioniert!«
»Aber ich glaube dir ja«, sagte er in seiner umwerfenden Art, lächelnd und mit ernsten Augen.
Ich steckte mir eine Praline in den Mund.
»Ich rede nicht gern mit anderen Leuten über solche Dinge. Vielleicht, weil wir Tibeter als irre spirituell gelten und ich es satthabe. Außerdem habe ich spät damit angefangen. Ich war zufrieden mit meinem Leben. Aber nur zufrieden sein, das genügt nicht. Aber das alles wirft eine Menge Probleme auf. Zum Beispiel: Ich begegne dir, lasse alles stehen und liegen und arbeite für Seine Heiligkeit statt für Ferreira und Partner. Unterschätze mich nicht! Ich bin durchaus dazu imstande.«
Er streichelte meine Finger, die ein wenig mit Schokolade beschmiert waren.
»Mir würde es nicht im Traum einfallen, dich zu unterschätzen. Du hast schon recht: Ich habe das alles nicht bedacht. Vielleicht, weil ich so traurig und einsam war. Meine Eltern erlebten hier ihre glücklichsten Jahre …«
Ich antwortete leise: »Der Vogel braucht sein Nest, der Fuchs seinen Bau, die Spinne ihr Netz und der Mensch sein Haus. Die Verstorbenen ziehen sich an Orte zurück, wo sie glücklich waren, und spenden ihren Segen. Das ist es, was mich so bedrückt: dass meine Vorfahren ruhelos umherirren, weil sie den Ort ihres Glücks nicht mehr finden. Lasse ich das Haus vor meinen Augen entstehen, schlüpften die Toten hinein und sind dankbar. Wir dürfen den Toten nicht den Ort nehmen, wo sie glücklich waren. Es ist wie ein Hausaltar, verstehst du?«
Er antwortete tief bewegt: »Ich danke dir, dass du mir das gesagt hast. Und sei beruhigt, ich werde das Haus nie verkaufen. Ich habe sofort gespürt, dass du ein gutes Stück weiser bist als ich.«
Daraufhin bediente ich mich mit einer Likörpraline.
»Na ja, hör mal, ich bin ja auch zwei Jahre älter!«
Worauf wir beide lachten.
Später liebten wir uns auf Kanams Bett, das weich und bequem und breit genug war. Draußen brach die Dämmerung herein. Die verschneiten Bäume wichen in blauer Schwärze zurück. Fuhr ein Wagen vorbei, flackerten Lichter auf. Das Haus schwebte in Raum und Zeit, in geisterhafter, friedlicher Stille erlebten wir tiefe Zärtlichkeit, süße, sengende Überwältigung, die machte, dass wir nur uns selbst fühlten und sonst nichts. Wir hatten eine Zweiheit gefunden in vollkommener Glückseligkeit, mit der taumelnden Lust des Blutes. Wir sahen uns dabei in die Augen, und unsere Pupillen waren zwei Spiegel, die sich liebten. Der Einklang unserer Bewegungen lenkte die samtigen Schauer, die musselinweichen Wellen des Begehrens, verwandelte sie in heiße Flämmchen im Inneren, in pulsierende Stiche im Rücken und unterhalb des Nabels. Und dazu das wortlose
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