Das Haus der Tibeterin
klopfte.
»Zieh dein Hemd aus!«, befahl er. »Zeig mir deinen Rücken.«
Sie fuhr zusammen, als ob er sie geschlagen hatte. Mit beiden Händen hielt sie die Knöpfe zu. Sie hatte mehr Kraft, als eine Frau für gewöhnlich hatte, aber er war stärker als sie. Er riss die Knöpfe auf und zerrte ihr das Hemd von den Schultern. Ihr kindlicher Oberkörper erschien im Licht der Flammen. Sie war so dünn, dass jede Rippe sich abzeichnete. Trotzdem kämpfte sie gegen ihn an, er musste ihre Arme halten, sie fast gewaltsam herumdrehen, damit er ihren Rücken sehen konnte. Alo stieß zischend die Luft aus. Und dann ließ er sie los, saß einige Atemzüge lang ganz still. Er hatte bereits Gefolterte gesehen, die derartige Verletzungen aufwiesen. Er fragte sich, wie sich die junge Frau bei solchen Wunden überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. Ihre Rückenmuskeln waren zu Brei zerschlagen worden und irgendwie zusammengewachsen, mit Knorpeln und Sehnen, die sich wie Wülste abzeichneten.
Und zwischen den Schulterblättern sah er eine Wunde, handtellergroß mit grünlich verfärbten Rändern, die blutete und eiterte. Alo wusste nicht, was ihn mehr rührte, der Anblick dieser Wunden oder Sonams Tapferkeit, die sie dazu befähigt hatte, ihre furchtbaren Schmerzen zwei Tage lang vor ihm zu verbergen. Den Tränen nahe und für den Moment unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, versuchte er, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Erst nach einer Weile war er wieder in der Lage zu sprechen.
»Man hat dich ausgepeitscht, ja?«
Sie machte ein bejahendes Zeichen.
»Aber diese Wunde ist neu«, sagte er.
Sie bewegte die verkrusteten Lippen. »Sie war … verheilt. Sie platzte auf, als ich vom Pferd fiel.«
»Und du hast nichts gesagt?«
Sie schüttelte wortlos den Kopf. Er ging zum Feuer zurück, schürte die Flammen, setzte Wasser auf. Seine Mutter Tesla hatte ihm beigebracht, wie solche Wunden zu pflegen waren. Er warf eine Handvoll Teeblätter in das siedende Wasser und wartete, bis alle Flüssigkeit verdunstet war. Als nur noch die Blätter auf dem Grund lagen, nahm er sie heraus, legte sie sorgfältig übereinander und formte kleine Umschläge.
»Komm näher ans Feuer!«
Sie tat, was er sagte. Er neigte sich über ihren Rücken, roch den durchdringenden Eitergeruch und begann, mit den Teeblättern die Wunde zu reinigen. Sonam saß unbeweglich da, die Hände im Schoß, ließ alles mit sich geschehen und gab nicht den geringsten Laut von sich. Doch so ruhig sie auch war, ihre Lippen waren weiß und zitterten. Als die Wunde von allem Eiter gereinigt war, umwickelte Alo sie mit einem Tuch, das er vorher mit der Salbe aus Indien bestrichen hatte. Als er das Tuch zwischen ihren kleinen Brüsten verknotete, fiel ihm auf, dass sie eine Kette mit fünf Dzi-Steinen trug. Die Steine
riefen eine unbestimmte Erinnerung in ihm wach, eine Erinnerung, die er nicht deuten konnte.
Um sich ein wenig von seiner Erschütterung zu erholen, berührte er leicht die Steine und fragte: »Man hat dir die Steine nicht abgenommen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich trug Jungenkleider. Vielleicht dachten sie, dass ich keinen Schmuck hatte.«
Es war, als ob die Dzi-Steine mit ihr verwachsen waren. Und doch kam Alo ihr Anblick seltsam vertraut vor. Ihre Form, ihre Farbe weckten ferne Bilder in ihm, die wie Wolken kamen und gingen und in der Dunkelheit verschwanden. Er konnte die Augen nicht von ihnen lassen. Schließlich sagte er: »Sie haben die Farbe deiner Haut.«
»Ich hatte eben Glück«, erwiderte sie mit einem kleinen, schmerzlichen Lächeln.
Er schüttelte seine Gedanken ab, zog ihr das Hemd über die Schultern, wickelte sie in seine eigene Tschuba, damit sie genügend Wärme hatte.
»Schlaf jetzt«, sagt er brüsk. »Und du darfst dich für ein paar Tage nicht bewegen.«
»Ich will nach Indien«, entgegnete sie starrköpfig.
»Die Wunde hat sich entzündet. Sie muss zuerst heilen.«
Sie suchte ihr Lager auf und nahm wieder ihre übliche Schlafstellung ein, auf dem Bauch. Alo dachte noch eine Weile über verschiedene Dinge nach, bevor er einschlief.
Als das Tageslicht hellrot in die Höhle schien und Alo erwachte, lag Sonam so still da, dass er fast glaubte, sie sei tot, und bei ihrer Verstümmelung wäre das auch nicht weiter verwunderlich gewesen. Beunruhigt beugte er sich über sie und lauschte; sie atmete rasch und kaum hörbar, wie ein junger Vogel. Als er später ihre Wunde untersuchte, sah er, dass der Eiter
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