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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Gestalten. Viele hatten Lumpen anstelle von Schuhen um die Füße gewickelt. Männer, Frauen und Kinder. Die Gefangenen lebten in Zelten, die Soldaten in Betonbauten. Ein dreifacher Zaun aus Stacheldraht umgab das Lager. Wachen, mit Maschinenpistolen bewaffnet, schritten auf und ab. Alo musste die Dunkelheit abwarten. Er führte sein Pferd in den Schatten einer Felswand und legte sich schlafen, verborgen vor den Blicken der chinesischen Wachsoldaten.
    Er erwachte gegen dreiundzwanzig Uhr - die richtige Zeit! Die Gefangenen hatten ihre karge Mahlzeit verzehrt, ihren täglichen Propagandaunterricht überstanden und schliefen nun in den Zelten; die Soldaten hatten sich in ihre Fertigbauten zurückgezogen. Alo fühlte sich gut ausgeruht für das, was er zu tun hatte. Er war daran gewöhnt, kurz und tief zu schlafen, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Er trank einen großen Schluck Wasser, holte die Dynamitstangen aus der Satteltasche und wickelte sie in einem Stoffgürtel um seine Taille. Die Sterne glitzerten am Himmel, und das Wachhaus war schwach erleuchtet. Im Lager brannten zwei Scheinwerfer. Der Strom kam von einem Generator. Die Zäune aus Stacheldraht hoben sich deutlich von dem hellen Hintergrund ab. Alo schlich vorwärts. Er hoffte, dass die Soldaten keine Wachhunde hatten, aber bisher hatte er keine gesehen. Er erreichte den Zaun und legte sich flach unter den Stacheldraht. Er griff nach der Zange, die er in der Tasche trug, und schnitt den Stacheldraht an zwei Stellen auf. Der Draht gab mit leisem Sirren nach; das Loch war groß genug, dass er hindurchschlüpfen konnte. Auf die gleiche Weise überwand er auch die beiden nächsten Zäune. Die Scheinwerfer leuchteten grell, doch viele Winkel gab es, die im Schatten lagen. Das Hauptquartier, ein
lang gezogener Bau, in dem die Offiziere auch schliefen, befand sich ganz in der Nähe. Aus den Ritzen der Fenster drang schwacher Lichtschein. Als Alo näher kam, hörte er das Gemurmel mehrerer Stimmen und das Klicken von Mahjongwürfeln; die Soldaten spielten ein Spiel, das die Partei verboten hatte. Alo schlich an der Wand entlang. Das dumpfe Surren des Generators überdeckte jeden Laut. Alo kroch schnell und geduckt näher. Er befestigte die Sprengkörper an beiden Seiten der Tür und noch eine Ladung unter einem Fenster. Als alles bereit war, riss er ein Streichholz an und zündete die Lunte. Ihm blieb eine halbe Minute Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Er kroch hastig zurück, lief auf den Stacheldraht zu, immer parallel zum Gebäude, in dessen Schatten er sich bewegte. Er rannte völlig lautlos, erreichte den Stacheldraht, fand die angebrachten Löcher und wälzte sich hindurch. Noch ein paar Sekunden. Alo zog den Kopf ein und duckte sich hinter einen Felsen. Schon flog die Stichflamme auf; mit tiefem Grollen schien sich der Fertigbau im Krampf zu winden. Dann lief ein dumpfer Donnerschlag das Gebäude entlang, hallte in den Bergen nach. Die Tür flog aus den Angeln, das Fenster explodierte in einem Regen von Glas- und Holzsplittern. Alo sprang auf und rannte davon. Unter seinen Füßen dröhnte die Erde, als eine Druckwelle die Flammen in den Bau fegte und alles verbrannte, was sich dort bewegte. Alo sah nicht mehr hin, es war ihm egal. Er war jetzt nur noch darauf bedacht, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den Ort seines Anschlags zu bringen. Vielleicht nutzten einige Gefangene die Konfusion zur Flucht. Alo glaubte allerdings nicht, dass sie die Kraft dazu aufbrachten. Joru, den er vorsorglich angepflockt hatte, wartete auf ihn. Das kleine Pferd schien nervös. Alo beruhigte ihn mit ein paar Koseworten. Er band den Wallach los, schwang sich in den Sattel und entfernte sich in raschem Galopp, wohl wissend, dass die Aufregung und das Geschrei im Lager das Trommeln der Hufe übertönten.

FÜNFUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
    S ie erwartete ihn in ihrer gewohnten Haltung sitzend, den Oberkörper sehr gerade, die Hände um die Knie gelegt. Alo nahm Joru den Sattel ab, den er auf den Boden warf. Er ging mit dem Wallach zum Bach, damit er trinken konnte. Dann rieb er die bebenden Flanken des Pferdes mit Bergkresse ab und sah mit leichtem Stirnrunzeln zu, wie es frisches Gras fand und abrupfte. Er nickte zufrieden: Der lange Ritt hatte dem Pferd nicht geschadet. Erst dann ging er zu Sonam und setzte sich neben sie.
    »Hast du dir Sorgen gemacht?«
    Sie wandte die Augen ab.
    »Ein wenig.«
    »Ich hatte was zu erledigen. Zeig mal die Wunde!«
    Sie

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