Das Haus der Tibeterin
trocknete. Die Salbe wirkte gut. Auch das Fieber war gefallen. Während sie neben ihm am Feuer saß, fragte er sie,
was im Lager geschehen war, dass man sie derart misshandelt hatte. Stolz und scheu, wie sie war, antwortete sie zunächst nur mit knappen Worten. Dann aber war es, als ob Fesseln in ihr zerrissen. Während sie erzählte, brach das ganze Entsetzen aus ihr hervor. Er hielt sie behutsam in den Armen; aller Argwohn war fort, alle Spannung gelockert. Auf einmal war sie vertrauensvoll wie ein Kind. Und sie ersparte sich keine beschämende Einzelheit; sie erzählte alles, was ihr widerfahren war in dieser entsetzlichen Zeit der Demütigung und Folter. Alo hatte in seinem Leben viele unerfreuliche Dinge gesehen und erlebt, und sein Herz war wie mit einer bronzenen Kruste überzogen. Doch diese Kruste schmolz, während sie erzählte - er hatte so viel Mitleid mit ihr. Und gleichzeitig spürte er eine glühende Wut in sich. Das heftige Verlangen, Rache zu üben für das, was man ihr angetan hatte, wuchs mit dem Bedürfnis, seinen Vater zu rächen, zusammen. Als sie alles gesagt hatte, barg sie den Kopf an seiner Schulter und stieß einen tiefen, zitternden Seufzer aus, wie ein Kind, das aus einem Albtraum erwacht. Das ganze Entsetzen hatte sich in ihr festgefressen gehabt, sie ausgefüllt wie ein schwerer dunkler Klumpen. Jetzt fühlte sie sich befreit.
An diesem Tag schmiedete Alo seinen Plan. Es war eine Sache, die er ihr schuldig war. Er erneuerte ihren Verband und sagte, sie solle sich ausruhen. Und nicht bange werden, wenn sie ihn ein oder zwei Tage nicht zu Gesicht bekäme. Sie nickte nur und schwieg. Es war nicht ihre Art, Fragen zu stellen. Und obwohl Alo wusste, wie gefährlich sein Vorhaben war, konnte er nicht anders: Er musste seine übermächtige Wut irgendwie loswerden. Er wartete, bis sie schlief, machte sich dann im Hintergrund der Höhle zu schaffen, schnitt die Pakete auf, die sein Vater hinterlassen hatte, und nahm einige Stangen Dynamit an sich, die er in ein Stück Fell wickelte. Bei Tagesanbruch legte er Joru Sattel und Zaumzeug an, verstaute die Dynamitstangen in der Satteltasche und führte das Pferd durch den
Wald. Die Sonne ging auf, als er sich in den Sattel schwang und nordwärts ritt, dem Arbeitslager entgegen. Er konnte nicht viel ausrichten, das wusste er. Die Gefangenen befreien? Aussichtslos! Ihre Schwester sei noch im Lager, hatte Sonam gesagt. Alo nahm an, dass er nichts für sie tun konnte. Dann und wann sagte er sich, dass sein Plan eigentlich völlig töricht sei. Aber er musste ihn ausführen; es hätte ihm keine Ruhe gelassen. Bisher waren Alos Handlungen stets dem puren Überlebenswillen entsprungen. Für die gläubigen Tibeter war der Einsatz von Gewalt kein geeignetes Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Aber Alo hatte seine Lektion gelernt; er war nicht unbedingt das, was er zu sein wünschte, sondern das, was er sein musste: ein Kämpfer. Menschliche Würde war in Tibet mittlerweile - seit gut zehn Jahren - ein purer Hohn geworden.
Alo konnte sein Risiko wohl einschätzen. Und das, was er vorhatte, würde nicht allzu schwierig sein. Bald kam die neue Asphaltstraße in Sicht, die in schnurgeradem Schnitt die Ebene teilte. Auch Sonam war an ihrem Bau beteiligt gewesen. Die Straße der Dämonen, dachte Alo mit freudlosem Grinsen. Er selbst ritt über gewundene Pfade am Rande der Abgründe, am Fuß schattiger Hänge, durch Wälder mit Krüppelbäumen und Geröll. Ihm war das Hochtal vertraut; es war eine starke, reiche Heimat für die Nomaden und eine Welt voller Gefahren für die Volksarmee. In der Zeit seines einsamen Reitens begegnete Alo keine Bedrohung. Nur die Sonne glühte, Schweiß sickerte über seinen Nacken, und auch auf dem Rücken des Pferdes zeigten sich große Schweißflecken.
Nach einiger Zeit blinkte der See, an dem man das Arbeitslager errichtet hatte, wie ein helles Auge in der Ferne. Das Eis war geschmolzen, doch das Wasser trug stets die Kälte der Gletscher im Herzen. Am Nachmittag erreichte Alo das Ufer. Der Wasserspiegel stand tief, und an manchen Stellen hatten sich kleine Sandbänke gebildet. Auf der anderen Seite erhob sich ein brüchiger Felshang, aus dem die Gefangenen mit
Pickel und Schaufel Steine lösten. Alo kauerte sich in sicherer Entfernung nieder und hob seinen Feldstecher vor die Augen, wobei er darauf achtete, dass die Sonne sich nicht in der Linse spiegelte. Er sah die Arbeiter ihre Lasten schleppen: kleine, ausgemergelte
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