Das Haus der Tibeterin
ausgehungert sie war. Doch Alo hatte genug unterernährte Menschen gesehen, um die Merkmale auch bei dieser jungen Frau zu erkennen.
»Wie lange warst du gefangen?«, fragte er.
»Fünf Jahre.«
»Bist du misshandelt worden?«
Sie wich seinem Blick aus.
»Es kam vor.«
»Hast du Familie im Lager?«
»Eine ältere Schwester. Mein Bruder ist nicht mehr da.«
»Geflohen oder tot?«
»Er ist nicht mehr da«, wiederholte sie ausdruckslos.
Sie wiegte sich leicht vor und zurück, wie ein Mensch, der unter Schmerzen leidet. Abgesehen von den Prellungen schien sie jedoch unverletzt. Aber vielleicht war die Kopfwunde ernster, als Alo gedacht hatte.
»Tut es noch weh?«, fragte er.
Sie verzog leicht die Lippen.
»Besser. Die Salbe kühlt.«
Er nickte.
»Ich wende sie auch bei Schusswunden an.«
Sie stellte zum ersten Mal eine Frage: »Bist du einer von denen, die gegen die Chinesen kämpfen?«
Er sah keinen Grund, ihr zu misstrauen.
»Ja. Mein Vater hat hier Sprengstoff und Munition verborgen.«
»Diese Pakete dort?«
Sie beobachtet verdammt gut, dachte Alo.
»Ja. Ich wollte nicht, dass sie von den Soldaten entdeckt werden.«
»Hättest du auch mich getötet?«
Er sah ihr offen in die Augen.
»Ja.«
Sie nickte abermals, wobei sie ein fast zufriedenes Gesicht machte.
»Ich war im Wachhaus unserer Arbeitsgruppe. Ich habe eine Schublade aufgebrochen.«
Er versuchte sich den ungeheuren Mut vorzustellen, den sie dazu hatte aufbringen müssen. In einem Arbeitslager bricht kein Häftling, dem das Leben nur ein wenig lieb ist, in ein chinesisches Wachhaus ein.
Sie indessen fuhr mit der Hand in ihre Gesäßtasche und brachte eine kleine Pistole zum Vorschein.
»Eine leere Pistole nützt nichts. Ich hatte keine Zeit, nach Munition zu suchen. Aber eine Kugel steckt noch drin«, sagte sie stolz.
»Eine einzige Kugel?«
Das Essen hatte sie etwas zu Kräften gebracht. Sie sprach jetzt flüssiger. Und sie sprach gut.
»Ja. Sie wäre für mich gewesen. Aber ich sah die Pferde und dachte, vielleicht schaffe ich es diesmal und brauche die Kugel nicht.«
Er verzog das Gesicht.
»Man kann nie wissen.«
»Auf den Pässen liegt noch wenig Schnee«, sagte sie.
»Wolltest du nach Indien?«
Sie nickte.
»Viele Flüchtlinge gehen über die Pässe.«
»Du hast dir das wildeste Pferd ausgesucht.«
Sie antwortete ruhig: »Ein Pferd, das nicht kämpft, lässt einen im Stich, wenn es gefährlich wird.«
Er starrte sie an.
»Du scheinst dich auszukennen.«
Sie wandte den Kopf leicht von ihm ab.
»Ein wenig.«
Das stimmt nicht, dachte er. Von Pferden verstand sie so viel wie er selbst. Sie erinnerte ihn immer mehr an eine Khammo, eine Nomadenfrau. Aber sie war keine Nomadin. Sie hatte einen Akzent, der nicht passte. Wer mochte sie sein? Nach einigen Jahren Arbeitslager sind die meisten Gefangenen kraftlos und erloschen wie Kerzen im Wind. Bei dieser jungen Frau traf das nicht zu. Die Kraft ihres Willens war ungebrochen.
Draußen war es dunkel geworden, das Feuer brannte nieder. Alo sagte: »Bei Tagesanbruch fahre ich ins nächste Dorf und verkaufe den Wagen.«
»Kannst du das?«, wollte sie wissen.
Er erklärte ihr, dass kein Tibeter einen Geländewagen der Volksarmee fahren durfte, dass es aber Männer gab, die die Wagen auseinandernahmen und jedes Teil als Ersatzteil auf dem Schwarzmarkt verkauften. Die Händler zeigten sich dabei sehr geschickt, das Geschäft blühte, und die Chinesen kamen meist nie dahinter, woher die Ersatzteile stammten.
Sie hörte aufmerksam zu und sagte schließlich: »Ich brauche andere Kleider.« Sie zerrte ungeduldig an ihrer Uniformjacke, die viel zu groß für sie war. »Diese will ich nicht mehr tragen!«
»Ich werde dir welche besorgen«, sagte er.
»Aber ich will Männerkleider. Die sind bequemer.«
»Gut.«
Sie fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Ich habe kein Geld. Aber ich kann für dich arbeiten.«
»Du bist müde«, sagte er.
»Seitdem ich da unten war« - sie sagte »da unten« statt »im Lager« -, »habe ich immer gearbeitet.«
»Wenn du nach Indien willst, musst du ausgeruht sein«, sagte Alo.
Das schien sie zu überzeugen, denn sie sagte nichts mehr. Er holte zwei Decken, die unter dem alten Yakfell die Munition schützten. Die Decken waren feucht und rochen modrig. Er schüttelte sie draußen aus und brachte sie Sonam. Sie nahm wortlos die Decken und trug sie in eine Ecke. Alo beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie breitete eine Decke als
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