Das Haus der Tibeterin
Longsela und deutete auf ihre eigene Kette.
Ihr Vater lächelte.
»Man sagt, dass Korallen Liebenden helfen, zueinanderzufinden.«
Hier kicherte Longsela nach Mädchenart, und ihr Vater sagte: »Nun, es mag ja sein. Aber Korallen erinnern uns auch daran, dass der Himalaya einst der urtümliche Ozean war, aus dem sich das Leben entwickelte. Wenn unsere Mütter ihren Babys Korallen umhängen, hat das einen besonderen Grund: Korallen stärken das wachsende Leben.«
Longselas Lieblingsstein aber war der Türkis. Ihr Vater wurde nicht müde, ihr von diesem wunderbaren Stein zu erzählen.
»Jede Frau weiß, dass man Türkise immer nahe am Kopf oder am Hals tragen soll. Türkis führt dem Blut Sauerstoff zu, hält Nerven und Muskelfasern gesund. Spülst du deinen Mund mit Türkiswasser aus, werden deine Zähne immer gesund bleiben. Türkis stärkt das Selbstvertrauen, fördert Intuition und klares Erkennen. Deshalb ist der Türkis auch der Stein des Kriegers.«
Tenzin brachte Longsela bei, die verschiedenen Farben zu erkennen, die beim Schleifen der Türkise sichtbar wurden: von hellblau bis dunkelblau, von gelbgrün bis rot gesprenkelt. Türkise, die weißliche Flecken aufwiesen, galten als besonders hart; solche, die man im Basalt fand, waren von einem klaren, schillernden Grün.
Türkise lagerten in Hohlräumen und Spalten kupferhaltiger, aluminiumreicher Gesteine, die ursprünglich Vulkane gewesen waren. Longsela lernte schnell, wie man solches Gestein
erkannte. Man entdeckte sie ziemlich leicht, gleich unter der Oberfläche. Dabei warnte Tenzin seine Tochter vor Fundorten aus Sandstein; solche Erdschollen stürzten leicht ein. Es gab einige Minen im Amdo-Gebiet, die von den Nomaden mit Spaten abgebaut wurden, aber kaum noch schöne Steine enthielten.
Longsela wurde dreizehn, als sie ihrem Vater gestand, dass sie ursprünglich davon geträumt hatte, Ärztin zu werden, inzwischen aber beim Anblick von Blut, Wunden und Eiterbeulen am liebsten gleich davonlaufen würde.
»Ich dachte, ich könnte es! Aber ich bin wirklich nicht dafür gemacht!«, klagte Longsela.
Sie kam sich schäbig vor und hätte es ihm am liebsten nicht gesagt. Tenzin, dem das längst klar geworden war, schmunzelte nur.
»Und wofür, glaubst du, bist du gemacht?«
Jetzt sprudelte es aus Longsela heraus. Was sie begeisterte, waren Edelsteine. Solche Steine zu berühren, jede auch noch so kleinste Farbschattierung wahrzunehmen, ihre Eigenschaften zu erkennen bereitete ihr ein intensives, sinnliches Vergnügen. Auf diese Verzauberung wollte sie auch in ihrem späteren Leben nicht verzichten. Mit Juwelen zu handeln schien ihr ein verlockendes Ziel.
Es war ja so, dass Schmuck in Tibet eine wesentliche Rolle spielte. Jeder Mann war verpflichtet, seinem Rang entsprechend Schmuck für seine Frau zu kaufen. Bekleidete der Mann einen höheren Rang, musste seine Frau sofort den entsprechenden Schmuck erhalten. Bei wichtigen Anlässen zeigten sich die Damen Lhasas mit einem gewaltigen Kopfschmuck aus Korallen, Türkisen und Perlen. Jede Menge Ketten, an denen gelegentlich goldene Ohrenkratzer und Zahnstocher hingen, Ringe an jedem Finger und Ohrgehänge aus Diamanten gehörten dazu. Man liebte überladene Pracht. Frauen wie Männer trugen Haarspangen aus Jade und besaßen schwere
Amulettkästchen aus gehämmertem Silber, bestückt mit Edelsteinen.
Um es vorwegzunehmen: Jahre später wurde Longsela die renommierteste Juwelenhändlerin Lhasas, obwohl sie selbst kein Geschäft betrieb, sondern ihre Kunden bei sich zu Hause empfing. Zu diesen Kunden gehörten auch die Gold- und Silberschmiede, die bald herausgefunden hatten, dass sie bei ihr nur erstklassige Steine bekamen. Longselas Türkise waren immer die schönsten. Türkis ist nur selten hart und beständig genug, um ihn in unbehandelter Form zu Schmuck zu verarbeiten. Zunächst mussten die Steine geschliffen werden. Unter Longselas wachsamen Augen wurde die Arbeit sehr akkurat und behutsam vorgenommen. Dann konnte man mit leichtem Wachsen und Einölen den Glanz des Steins hervorheben und die Farben zum Leuchten bringen. Vom Einsatz von Kunststoffen wie Alkalisilikat hielt Longsela nicht viel, obgleich diese Methode der Verwendung von Öl und Wachs technisch überlegen war. Was Haltbarkeit und Stabilität anging, gewiss, aber Longsela erachtete die neuen Methoden als einen zu brutalen Eingriff in das Leben des Steins. Sie verwendete nur echtes Bienenwachs und nach Blumen duftende Öle. Die Steine
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