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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Bewusstsein, auf keine anderen, fremden Kräfte angewiesen zu sein, sondern sich auf ihre eigenen verlassen zu können. Und so fühlte sich Longsela keineswegs befangen, als eines Tages Folgendes geschah:
    Sie ritten über ein einsames Hochtal, und von den Gipfeln wehte bereits kalter Abendwind herab, als sie in der Ferne einige dunkle Punkte erblickten, die sich bewegten. Eingehüllt in flammende Sonnenschleier waren sie wie eine Erscheinung am Horizont aufgetaucht und kamen allmählich aus dem Spiegelglanz des Hochtals näher in Sicht. Es handelte sich um eine kleine Gruppe von gelöst trabenden Reitern. Den Anführer sah Longsela bald deutlicher. Er ritt einen fuchsroten Hengst mit langer zottiger Mähne und einer so mächtigen Brust, so leichten und doch kräftigen Beinen, dass er an Schönheit und Stärke die wertvollsten Zuchtpferde in Lhasa bei Weitem übertraf. Der Mann selbst war groß von Gestalt. Sein Gesicht war schmal, dunkelbraun, mit einer Adlernase und kieselharten Augen. Er war jung, seine Haut noch faltenlos, seine Stirn klar und hoch. Doch sein gebieterisches Auftreten ließ ihn älter aussehen. Unter seinem schwarzen Umhang trug er eine »Tschuba« mit Goldfiligran-Stickerei und von den Schultern bis zu den Schenkeln einen breiten Patronengürtel. Über seine Schulter hing ein Gewehr mit sehr langem Lauf und silberbeschlagenem Kolben. Obwohl seine Begleiter, ebenfalls bewaffnet und eindrucksvoll gekleidet, ihre
Pferde zurückhielten, drängten sich die Dienstboten verschreckt aneinander und tuschelten. Eine Handbewegung Tenzins ließ sie verstummen. Inzwischen brachte der Anführer sein Reittier vor ihm zum Stehen und begrüßte ihn ehrerbietig, beide Hände zusammengelegt. Es war ein Gruß, der eigentlich nur hohen Lamas vorbehalten war. Haltung und Benehmen zeigten tadellose Umgangsformen, doch als er sprach, klang seine Stimme sehr hart und befehlsgewohnt. Er gab seinen Vornamen an - Kanam - und nannte als Familiennamen, wie es unter Nomaden Brauch ist, den Namen seiner Heimatstadt Chamdo. Dann sprach er zu Longselas Vater: »Kushog - Herr -, ich bin ›Gap‹ einer Familie, die südwestlich von hier, hinter der Kuppe lagert.« Er deutete mit einer weiten Armbewegung in die Richtung. »Mir kam zu Ohren, dass Ihr ein erfahrener ›Menrapa‹ - ein Medizingelehrter - seid.«
    »Nun, ich bin zwar Arzt«, erwiderte Tenzin, »aber mein Wissen ist gering, denn Vollkommenheit ist dem Menschen nicht gewährt.«
    Kanam gab ihm durch eine keineswegs unhöfliche, aber leicht ungeduldige Geste zu verstehen, dass er für Kontroversen dieser Art wenig übrighatte.
    »Eurer Wissen, Kushog, wird genügen. Doch es eilt. Ich ersuche Euch um die Gnade, einen Umweg in Kauf zu nehmen. Mein kleiner Sohn, Alo, stürzte und brach sich das Knie. Jetzt hat er hohes Fieber, und die Wunde sieht schlimm aus. Eure Güte soll reich belohnt werden.«
    Seine Höflichkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier eindeutig um einen Befehl handelte. Wieder murrten die Diener, doch das grimmige Starren der Nomaden brachte sie schnell zum Schweigen. Longselas Vater indessen gab Kanam durch eine Bewegung zu verstehen, dass Bezahlung für ihn keine Rolle spiele.
    »Dann lass uns reiten!«, sagte er knapp.
    Es dunkelte bereits, als sie zu den Zelten kamen. Weil geheimnisvolle
Signale die Besucher schon gemeldet hatten, waren die Wachhunde angekettet, was sie nicht daran hinderte, furchterregend zu bellen. Es waren Tiere mit schwefelgelbem Fell, gedrungen und kräftig, mit flachen Ohren und riesigen Mäulern, fähig, einen Reiter aus dem Sattel zu zerren und ihm die Kehle aufzureißen. Ihr Gebrüll schien die Yaks nicht zu stören, die friedlich zwischen den Zelten weideten. Als die Reiter aus dem Sattel glitten, kamen Frauen und Manner herbei, begrüßten die Gäste mit großer Höflichkeit. Die Frauen waren so prachtvoll wie die Männer gekleidet und mit Dolchen bewaffnet, die in ihren schön bestickten Schärpen steckten. Einige junge Burschen fachten die Feuer an, bliesen mit einem Blasebalg aus Ziegenfell Luft unter die dürren Zweige, legten Kugeln aus Yakmist in die Flammen. Eine Frau zog einen Teeziegel aus einem Lederbeutel, warf die getrockneten Blätter in einen Kessel. Sie schnitt Stücke aus einem Klumpen »Dri«-Butter - Dri ist der Name der Yakkuh - in kochendes Wasser und rührte kräftig um, bevor sie den Tee in ein hohes Gefäß goss und schüttelte. Inzwischen warf der Anführer die Zügel des

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