Das Haus der Tibeterin
waren ihr dankbar und zeichneten sich durch besondere Leuchtkraft aus. Longsela bot auch Bernsteine, Amethyste, Topaze und Rubine in allen Schattierungen an sowie Smaragde, Diamanten und Perlen; die größten und schönsten kaufte sie in China ein. Longsela war stets auf der Suche nach Wundern, jenen Wundern, die Erde und Wasser hervorbrachten. Sie wollte keine gewöhnliche Händlerin sein, sondern eine Vermittlerin zwischen Juwelen und Menschen. Sie kannte das Wesen der Edelsteine ebenso, wie ihr Vater durch das Befühlen des Pulses das Wesen eines Patienten erkannte, Auskunft geben konnte über Gesundheit oder Krankheit. Longsela nahm die Juwelen in ihre Hand, fühlte ihre Schwingungen und wusste immer ganz genau, welcher Stein sich zu welchen Menschen hingezogen fühlte.
Doch vorerst war sie ein Mädchen, das ihren Vater auf weiten Reisen begleitete und viel von ihm lernte. Wie hoch geschätzt Tenzin in Lhasa war, wusste sie, denn in der Hauptstadt kannte ihn jeder. Dass aber sein Ruhm auch in andere, ferne Gebiete gedrungen war, erfuhr sie bei einer ganz besonderen Begebenheit.
ACHTES KAPITEL
T enzins Suche nach heilenden Steinen hatte ihn in ein weites Hochtal geführt, wo der Wald seit über tausend Jahren bestand. Die Bäume, die hier wuchsen, waren älter als viele Generationen menschlichen Lebens. Immer wieder entdeckten Tenzin und sein Gefolge die Spuren wilder Tiere: Antilopen, Füchse, Dachse, Hermeline, Schwarzbären, die sehr scheu sind, und manchmal sogar Wölfe. Aber den Reitern drohte keine Gefahr. Fanden die Tiere genug Nahrung, blieben sie den Menschen, dessen Willkür sie fürchteten, fern. Die sommerlichen Wälder waren oft wolkenverhangen. Wilde Erdbeeren wuchsen zwischen Moosen und Farnkraut, und viele Vögel sangen. Manchmal waren die Pfade steil und gefährlich, dann wieder trabten die Reiter über Wiesengras, das mit seidigem Geräusch die Beine der Pferde streifte. Schmetterlinge wirbelten in Schwärmen, und die grünen Blitze der Libellen zuckten in der Sonne. In der dünnen Luft erschienen alle Berge klar und herrlich, die hohen Gletscher leuchteten, und jeder Berg barg in seinen Flanken eine ganze Welt von Edelsteinen, das Gedächtnis der Erde.
Oft sahen sie unten im Tal kleine Dörfer. Auf den Dächern niedriger Steinhäuser, wo sich Brennholz stapelte, wehten Gebetsfahnen. Die Dörfer scharten sich um Klöster, die wie Bienenwaben an den Hängen klebten; sogar aus der Ferne erkannte man die Leitern, über welche die Mönche an den Steilwänden hinauf- und hinabkletterten. Yak- und Schafherden weideten auf Wiesen von prächtigem Grün, Bauern bestellten
die Felder. Kleider waren in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet. Über der Landschaft lag ein Zauberschleier, der Longselas Gedanken zum Schweben brachte. Sie träumte, dass sie eine Schwalbe war, die alle Weiten überflog, um zu wunderbaren Gegenden zu gelangen. Dass ihre Träume dabei den Träumen ihres Vaters glichen, wusste sie nicht, obwohl beide das gleiche Glücksgefühl teilten.
Es kam aber auch vor, dass in der Ferne Zelte sichtbar wurden, schwarzen Vögeln ähnlich, die sich mit ausgebreiteten Flügeln in den Erdfalten duckten. In diesen Zelten lebten Khampa-Nomaden, und stets meinten die Gefolgsleute, ein Umweg sei einer Begegnung mit ihnen vorzuziehen. Tatsache war, dass die Männer dieses Volkes in Tibet einen zwiespältigen Ruf genossen. Man lobte ihren Mut, ihr ritterliches und stattliches Auftreten, und gleichzeitig fürchtete man sie als Plünderer und Räuber. Ihre Frauen, die »Khammo«, galten als dreist und raffgierig. Sie waren dafür bekannt, dass sie unerbittlich feilschten. In den schmalen Straßen um den Barkhor - den Marktplatz von Lhasa, wo es von Menschen wimmelte - hatte jeder Mühe, sich einen Weg zu bahnen. Jeder - mit Ausnahme der Khampa. Beim Anblick ihrer roten Turbane, ihrer Fellkappen ging eine Warnung flüsternd von Mund zu Mund, und wie ein Wunder tat sich eine Gasse vor ihnen auf. Wo sie vorübergingen mit ihrem eigentümlich stapfenden Gang, zu dem ihre hohen Reiterstiefel sie zwangen, ließen die Händler ihre Ware nicht aus den Augen. Aber falls die Khampa tatsächlich lange Finger gemacht hatten, mussten sie sehr geschickt vorgegangen sein, denn niemals waren sie dabei ertappt worden. Die Khampa jedoch schienen den ehrfürchtigen Argwohn der Stadtbewohner nicht zu spüren. War es Gewohnheit? Verstellung? Gleichgültigkeit oder Hochmut? Gelassen schlenderten sie zwischen den
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