Das Haus der Tibeterin
selbst bürstete und das Sattelzeug in Ordnung hielt, statt diese Aufgabe den Knechten zu überlassen. Nie zeigte das Silber ihres mongolischen Sattels eine trübe Patina. Jo-Jo trug mit Stolz seine Seidenquaste unter dem Kinn, das Kennzeichen dafür, dass seine Besitzerin adelig war. Mähne und Schweif waren mit Bändern geflochten, und die blank geputzten Hufe glänzten wie Muscheln. Longsela kannte die Eigenarten ihres Vaters, der nur sprach, wenn er Lust dazu hatte. Sie wusste, dass Tenzin seine scharfen Sinne auf seine Umgebung einstimmte und nicht gestört werden wollte. Er beobachtete die Natur, und er beobachtete sich selbst, unermüdlich und beharrlich. Und so ritt sie stumm neben ihm her, ein kleiner stiller Schatten. Sie trug einen Strohhut über ihren Zöpfen, bequeme Reithosen, ein ›Tschuba‹ aus wattierter Seide und kniehohe, bestickte Stiefel. Was sie nicht wusste, war, dass ihre Gegenwart für Tenzin das Wesentliche bedeutete. Dass sie das Kind seines Herzens war, die Verkörperung seiner zärtlichsten Liebe.«
SIEBTES KAPITEL
L ongselas Mutter musizierte und sang nicht nur bezaubernd, sie war auch eine geschickte Verwalterin ihrer Güter und eine unerbittlich akkurate Hausherrin, die den Dienstboten stets das belastende Gefühl vermittelte, sie selbst sei in der Lage, alles besser zu machen. Erst im Alter begann sie träge zu werden, und in ihren letzten Jahren rührte sie keinen Finger mehr.
Longsela hatte für die hausfraulichen Tugenden ihrer Mutter wenig Sinn. Sie fühlte sich mehr zu ihrem Vater hingezogen. War er in Stimmung zu reden, fand sie in ihm einen Menschen, der sie wie eine Erwachsene ernst nahm und sein Wissen, seine Träume und seine Entdeckungsfreude mit ihr teilte.
»Wir tragen in uns die Elemente von Erde und Wasser«, sagte Tenzin. »Es gibt Menschen, die das nicht einsehen wollen. Und doch ist es wahr. Die Natur ist es ja, die unseren Körper formt. Du kannst es bei verletzten Tieren beobachten. Weil jeder Organismus Eisen, Kalzium und Zink enthält, wissen Tiere aus dem Instinkt, dass Mineralien heilend wirken.«
Tenzin erklärte Longsela, dass man Mineralien nur sehr sparsam und in Pulverform anwenden sollte. Und sie mussten immer so verpackt werden, dass sie atmen konnten.
Als sie das zum ersten Mal hörte, war Longsela sehr erstaunt.
»Atmen Steine denn?«
Ihr Vater antwortete geduldig.
»Natürlich nicht mit Lungen wie wir. Bedenke aber, dass unser Planet ein Organismus ist, der frei im All schwebt und alles Leben hervorbringt. Die Menschen glauben, eine Gottheit habe sie erschaffen. Aber wer ist diese Gottheit, wenn nicht unsere Mutter, die Erde?«
Bald glaubte auch Longsela ganz fest, dass Steine Gefühle und Gedanken hatten.
»Sie sind in der Erde gefangen«, sagte Tenzin. »Sie sind glücklich, wenn wir sie von Schlamm und Schlacken säubern und sie das Tageslicht erblicken. Sie sind fremd und freundlich. Manche fielen vor Millionen von Jahren vom Himmel und kommen von einem anderen Stern. Sie haben große Krater gebildet, die wir heute noch sehen können.«
Tenzin sprach gern von den Heilsteinen, von ihrer vielfältigen Anwendung.
»Um gesund zu bleiben, müssen wir nicht nur Früchte, Gemüse und Fleisch in kleinen Mengen verzehren, sondern auch Mineralien. Sie lassen sich aus Steinen lösen und führen dann dem Körper - in Form von Edelsteinwasser oder Steinpulver - die wichtigen Substanzen zu. Bei Rheumaschmerzen tut auch das Auflegen von warmen Steinen gut. Am wirksamsten ist es, die natürlichen Heißwasserquellen aufzusuchen, die von diesen wohltuenden Steinen umgeben sind.«
Jeder Stein hatte seine besondere Eigenschaft, erklärte Tenzin, und Longsela war ganz Ohr. Amethyst half bei Hautausschlag und schenkte einen tiefen, guten Schlaf. Bergkristall war gut für das Blut und die Adern. Bernstein linderte Knochenschmerzen, Karneol stillte Blutungen, stärkte den Mut und die Lebensfreude. Und von allen Steinen war der Diamant der härteste und kostbarste.
»Sei glücklich, wenn du einen findest!«, sagte Tenzin. »Denn er schützt vor Gefahren, lindert Ohrenschmerzen und fördert das Denkvermögen. Ich selbst jedoch bevorzuge Jade, den ältesten Glücksstein der Welt. In früheren Zeiten war Jade begehrter
als Gold. Man kann Jadewasser trinken, um den Körper zu entschlacken. Und den Stein soll man auf der bloßen Haut tragen, weil er das Herz stärkt, den Menschen glücklich, gerecht und tatkräftig macht.«
»Und die Korallen?«, fragte
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