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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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versprochen, dass wir alle zusammen Neujahr feiern werden?«
    Sonam betrachtete sie aus verschleierten Pupillen. Es lag viel Melancholie in ihrem Blick. Eine Melancholie besonderer Art, unbefangen und ernst, wie der Blick des Hündchens, das sie in den Armen hielt.
    »Und wenn du nie wieder nach Hause kommst?«
    Longsela wusste, dass ihre Jüngste die Welt mit eigenen Augen betrachtete, in den Farben ihrer Fantasie. Trotzdem wurde sie von dem Schmerz und Kummer ergriffen, den Sonams Gesicht mit einem Schlag zeigte. Sie zwang sich, in festem Ton mit ihr zu reden.

    »Sonam, du bist jetzt ein großes Mädchen. Sei vernünftig und gib auf deine Mola acht. Du weißt, dass sie nicht klar im Kopf ist.«
    Auf Sonams gebräuntem Gesicht lag ein gesammelter, ferner Ausdruck. Sie hatte den Kopf leicht zwischen die Schultern gezogen und ließ diese etwas hängen. »Mola und ich verstehen uns gut. Sie bringt mir Lieder bei und erzählt Geschichten von früher.« Bei diesen Worten winselte das Hündchen und schüttelte sich, und Sonam trug es aus dem Raum.
    Die letzten Stunden flogen dahin. Longsela kam es vor, als habe die Zeit selbst es jetzt eilig. Etwas Beunruhigendes beschäftigte sie sehr - beschäftigte sie bis zum Wahnsinn, weil sie nicht hätte sagen können, was es war. Doch am Vorabend der Abreise rief sie Sonam zu sich. Beide setzten sich auf Longselas Bett. Sonam sah still zu, wie ihre Mutter die alte Lederschnur mit den Dzi-Steinen über ihren Kopf zog und mit geschickten Händen, jedoch recht mühevoll, den Knoten löste. Sie ließ ungefähr die Hälfte der Steine in ihre Hand gleiten, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass die Farben zusammenpassten. Dann reihte sie die Steine auf einer neuen, robusten Lederschnur auf, legte sie Sonam um den Hals und zog den Knoten im Nacken fest.
    »Du wolltest doch schon lange meine Dzi-Steine.«
    Sonams Wangen zeigten eine lebhafte, sanfte Färbung.
    »Warum hast du dir mit mir die Kette geteilt, Amla? Sie ist jetzt viel kleiner und weniger schön.«
    »Weil ich dir etwas von mir zurücklassen will. Du sollst nicht traurig sein.«
    Der Atem des Mädchens ging rascher. Ihre Augen waren dunkler, ihre Lippen lebendiger.
    »Ich bin nicht mehr traurig.«
    Mutter und Tochter blickten gleichzeitig in den Wandspiegel am Fußende des Bettes. Longsela sah Sonams Gesicht neben dem ihren und war überrascht, wie sehr beide Gesichter einander glichen.

    »Du kennst doch die Geschichte«, brach Longsela schließlich das Schweigen. Sonam drehte die Augen zu ihr hin. Longsela entdeckte auf dem gebräunten, stolzen und verschlossenen Gesicht einen starken, beharrlichen Eigensinn.
    »Ich möchte sie noch einmal hören.«
    Longsela erzählte also von ihrer Begegnung mit den Nomaden, von dem verletzten kleinen Jungen und von dessen Mutter, die ihr die Kette geschenkt hatte. Als sie das alles erzählt hatte, fragte sie Sonam: »Hast du die Zauberworte noch gut im Kopf?«
    Die Frage schien Sonam überhaupt nicht zu überraschen. Es schien fast so, als habe sie darauf gewartet. Ihre Lippen hoben sich leicht. Sie zeigte ein ganz zart angedeutetes Lächeln, das ihre Züge verklärte. Sie senkte die Augen, als ob sie den Blick nach innen richtete, sagte den Spruch leise auf und versprach sich kein einziges Mal.
    »Wie das Blut, so rot
    Wie die Erde, so braun
    Wie die Sonne, so gelb
    Steine, erfüllt meinen Wunsch.«
    Dann hob sie die Augenlider wieder und bezog die Mutter in ihr Lächeln ein. Longselas Kehle fühlte sich an, als wäre sie von Tränen voll. Sie legte beide Arme um das Mädchen, drückte es fest an sich.
    »Du hast die Worte wundervoll aufgesagt!«
    Sonam schmiegte ihre heiße Wange an die Wange der Mutter.
    »Danke, dass du mir die Steine gegeben hast.«
    Es ist eine Art von Bündnis, dachte Longsela, das einem sehr gewichtigen Versprechen gleicht. Sie schluckte ihre Tränen hinunter, zeigte mit Mühe ein Lächeln.
    »Nun, verliere sie nicht wieder im Fluss!«
    Sonam schüttelte den Kopf.
    »Nein, es sind doch die richtigen Steine.«

    »Ist jetzt alles gut?«, fragte Longsela. »Hast du keine Angst mehr?«
    Sonam hob ihre kleine, aufgesprungene Hand. Ihre Finger mit den abgebrochenen Nägeln strichen über die glatten Steine.
    »Angst? Nein! Jetzt habe ich vor nichts Angst.«
    Auch Longsela fühlte sich besser; ein Teil ihrer Befürchtungen verließ sie. Doch als der Augenblick der Abreise kam, konnte sie nicht anders, als den Abschied mit allen möglichen kindischen Tricks

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