Das Haus der Tibeterin
gut.«
»Ist die Reise nicht gefährlich?«
»Die Straße nach Shigatse ist jetzt fertiggestellt. Und Yeshe ist ein guter Fahrer. Über die Pässe gehen wir dann mit Maultieren. Wir schließen uns einer Karawane an, da kann nicht viel passieren. Und zu Neujahr sind wir wieder in Lhasa. Wirst du mit An Yao ein bisschen auf die Kinder achten?«
»Selbstverständlich.«
»Auf Lhamo ist ja Verlass, und unsere Dienstboten sind vertrauenswürdig. Aber ich würde ruhiger sein, wenn ich weiß, dass ich auf euch zählen kann.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Falls es Schwierigkeiten geben sollte, wendet euch an Dawa Rimpoche. Er ist im Kloster ein bisschen weltfremd geworden. Aber er kennt eine Menge Leute und hat auch viel Einfluss.«
»Das werden wir tun. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich hoffe, dass du bald Post haben wirst.«
»Das hoffe ich auch. Ich bin sehr niedergeschlagen, Longsela. Ich habe das Gefühl, dass wieder Krieg in der Luft liegt.«
»Wie kommst du darauf?«
Ling schlürfte kummervoll ihren Tee.
»Es sind seltsame Zeiten, weißt du. In China sieht man überall Ketzer und Spione. Alle, die Mao kritisieren, gelten als reaktionär. Und Mei hatte schon immer eine lockere Zunge. Zum Glück ist sie bald siebzig«, setzte Ling mit traurigem Auflachen hinzu.
»Zum Glück?«
Ling verzog die spröden Lippen.
»In China ehrt man das Alter.«
»Na, das sollte dich ja beruhigen.«
»Ich habe unrecht, in Zorn zu geraten. Die Partei meint es ja nur gut mit uns«, sagte Ling in überzeugtem Tonfall.
Wie oft war Longsela schon staunende Zeugin geworden, wie Ling es immer wieder schaffte, ihr Vertrauen in die Partei als Stütze zu nehmen, um nicht den Mut zu verlieren. Und wahrscheinlich war sie kein Einzelfall. Longsela trank ihren Tee aus und erhob sich. Ling, in ihren Schal eingewickelt, brachte sie zur Tür. Sie streckte die Hand aus, und Longsela nahm sie, obgleich sie ihr nur konsternierte Gedanken zuwandte. Ihr fehlte die Kraft, Ling zu sagen, sie sollte doch nicht so gutgläubig sein. Die Erziehung der Partei war gelungen. Leider. Als die beiden Frauen einander umarmten, stieß Lings Brillengestell ziemlich schmerzhaft an Longselas Stirn. Sie sah, dass Ling Tränen in den Augen hatte.
»Warum weinst du, Ling?«
Sie wandte ihr feines Profil von ihr ab. Ihre Stimme schwankte zwischen Schluchzen und ersticktem Gelächter.
»Ach, es ist nur der Wind. Du weißt ja, dass ich empfindliche Augen habe. Also, pass gut auf dich auf, und achte bitte auch ein bisschen auf Paldor. An Yao und ich kümmern uns um die Kinder.«
Der Vollmond schien, und Yangzom schlief schon seit ein paar Nächten nicht mehr. Es war, als ob ihre Trägheit tagsüber den Schlafmangel ausglich. Sobald der Mond in ihr Zimmer leuchtete, wurde sie unruhig. Sie verließ mit großer Anstrengung ihr Bett, wanderte unsicher tapsend durchs Haus. Weil sie Filzpantoffeln trug, hörte ihre Zofe sie oft nicht rechtzeitig. Eines Nachts, im Traum, hörte Longsela eine lustige Stimme, die ein altes Reiterlied sang. Plötzlich erwachte sie und erschrak, weil das Lied ganz aus der Nähe erklang. Sie richtete sich verstört auf und sah eine dunkle, breite Gestalt vor ihrem Bett stehen.
»Amla, was machst du hier?«
Yangzom hob ihre kleine, fleischige Hand.
»Pssst! Kind, du solltest schlafen.«
»Wie kann ich schlafen, wenn du singst?«, antwortete Longsela, beunruhigt und etwas verärgert.
»Ach, gefällt dir mein Lied nicht? Ja, ja, ich habe nicht mehr die gleiche Stimme wie früher.«
Da erwachte auch Paldor, geleitete die Schwiegermutter behutsam hinaus und weckte die Zofe, die sich ihrer annahm und sie wieder zu Bett brachte.
Die Unruhe ihrer Mutter bedrückte Longsela mehr, als sie es wahrhaben wollte. Oft, wenn sie an ihre Reise dachte, kamen ihr die fürchterlichsten Gedanken in den Sinn. Ja, sie hatte Angst, obwohl sich ihre Vernunft dagegen auflehnte. Diese Herzensangst schien ihr absurd. Sie konnte keine wirkliche Grundlage haben, keinen wahren Sinn. In Kürze würde sie wieder in Lhasa sein, würde der Familie von ihrer Indienreise erzählen; und die Kinder würden ihr ihre während der Abwesenheit erlebten Freuden und Nöte mitteilen. Aber was war eigentlich mit Sonam, die jetzt ständig bei der Mutter sein wollte, ihr überallhin folgte, das Hündchen Deki an sich gepresst, bis Longsela die Geduld verlor?
»Ich weiß, dass es zwei lange Monate werden! Die kannst du doch wohl aushalten? Und haben wir dir nicht
Weitere Kostenlose Bücher