Das Haus der Tibeterin
der Schwelle der Haustüren standen bunt gekleidete Frauen, die laut lachten und mit den Händen redeten. Es war Herbst; schon frühmorgens wehte Staub, von Rädern, Füßen, Hufen aufgewirbelt, wie ein leichter Nebel über den Basar. Händler mit Schubkarren und Bündeln, Reiter, Maultiertreiber, Nomaden mit Türkisen in den Ohren, hochgewachsen in ihren zottigen Schafsfellen, Mönch-Beamte, kindliche Nonnen und Novizen. An jeder Kreuzung regelten chinesische Polizisten mit gebieterischer Trillerpfeife und weiß behandschuhten Händen den Verkehr. Vieles jedoch wurde dem Zufall, dem guten Willen, der Sorglosigkeit oder dem Schicksal überlassen. Ein Klingeln und Surren erfüllte die Luft, weil die meisten Leute ja Fahrrad fuhren, während Kinder unbekümmert vor den Haustüren spielten und langhaarige Hündchen in der Sonne dösten. Bald erreichte der Jeep den Parkhor, den inneren Ring, der zum Jokhang-Heiligtum führte. Hunderte von Pilgern trafen
sich hier, an der Grenze zu Gott. Sie drängten sich dicht wie die Winterbienen, und ihre gemurmelten Gebete erzeugten ein ständiges Brummen. Manche Gläubige kamen auf Krücken, in Lumpen gekleidet. Andere warfen sich zu Boden, erhoben sich wieder, wiederholten unermüdlich die gleiche Bewegung, maßen mit abgemagerten Körpern die ganze Länge der Strecke. Ihr zerzaustes Haar war weiß vor Staub, ihre schweißnassen Gesichter ölig; sie hatten Bretter um Knie und Hände geschnallt. Mönche schützten ihren kahlgeschorenen Kopf mit einem großen Schirm. Alte Frauen, das verzückte Antlitz erhoben, drehten kleine kupferne Gebetsmühlen. Ihre Wunschkraft führte sie den goldglitzernden Dächern, den Riesenmauern entgegen, die aus den Felsen wuchsen und den Glauben höhertrugen, in den Himmel, wo das Geheimnis rief und lockte. Wie gewaltige Schmetterlinge wehten Gebetsfahnen, zogen in ihre Seelenlungen die Aromen der Lebenden, um sie den Toten zu schenken. Vor Longselas Augen schwankten die Fahnen auf und nieder, mit wechselndem Aufflammen von Grün, Blau und Gelb. Sie nahm alle Bilder und Eindrücke gierig auf, bestaunte diese Dinge, die ihr vertraut waren; sie spürte rund um Lhasa eine Kraft, lichtdurchströmt, über alles menschliche Denken erhaben, gnädig und Freude spendend und niemals bedrohlich. In Longsela regte sich etwas; etwas Neues, das keinen Namen hatte. Wenn ihr Blick sich auf etwas richtete, so war es, als wollte sie es bis zur Neige auskosten. Sie sah sich von Luft und Licht umgeben, von einer zum Untergang verurteilten heiligen Helle, während Schatten wuchsen wie die Schatten der Berge, sobald die Sonne sinkt und die Täler sich verdunkeln. Inzwischen fuhren sie dahin, am Berg Tschagpori mit dem gleichnamigen Kloster vorbei, dem Steintor mit seinen Reliquienschreinen entgegen, das früher als Stadteingang streng bewacht zu werden pflegte. Nun standen chinesische Soldaten hier, die ziemlich wahllos Kontrollen durchführten. Auf den Bäumen hockten Königskrähen, hoben die Flügel wie schwarze Gewänder
im Wind. Es waren heilige Vägel, denn die Götter hatten ihnen den Auftrag erteilt, die Straße von Unrat und verwesendem Aas zu reinigen. Die Strecke, von grauen Backsteinen gesäumt, die in der Sonne trockneten, war mit Fahrzeugen verstopft, darunter zahlreiche Lastwagen, die fast die ganze Breite der Straße einnahmen. Infolge ihrer Last, die stets das erlaubte Gewicht überstieg, lagen die Wagen immer etwas schief. Dabei machten die unzähligen Pakete, die Kisten, Körbe, Säcke und Bündel nicht einmal das schlimmste Übergewicht aus. Denn darüber hinaus trugen ihre Dächer - ja notfalls selbst die Planen - noch eine beachtliche Anzahl Menschen, die dicht aneinandergepresst, oft liegend, dort oben hockten. Die Lastwagen waren mit Flitterwerk, Glücksschärpen und buddhistischen Rosenkränzen geschmückt, eine Beruhigung für die Fahrer, die im Gebirge nicht selten die Ränder der Abgründe streiften. Doch es gab auch andere Lastwagen, chinesische, die in großen Mengen bewaffnete Soldaten beförderten. Und alle fuhren nach Süden. Glaubten die Chinesen wirklich, fragte sich Longsela, dass ihre Propaganda in Tibet Wurzeln fassen konnte? Sie glaubten es wohl; ihre alleinige Wahrheit hatte sie fanatisch werden lassen. Doch ihre politischen Schlagworte waren nach wie vor wie das Quäken einer Kindertrompete im Schweigen der Berge, wenn man auf das Rauschen des Windes hörte, auf das Tropfen einsamer Quellen. Nichts kann dem Glauben widerstehen -
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