Das Haus der Tibeterin
das Rascheln der alten Seidengewänder, und das Licht verwandelte sich in Bilder, die sie wirklich sah. »Mola, erzähl mir von den Reitern!«, bat Sonam. Die Mola erzählte, und Sonams Fantasie schwang sich sanft und beharrlich empor, streckte sich behutsam vorwärts, umkreiste Zeit und Raum. Und bald tauchten die Reiter aus einer Sandfahne auf, aus einer schweren und zugleich weichen Wolke. Von allen Seiten jagten sie herbei, unsichtbar getragen von Hufen, die im Dahinstürmen verschwanden, großartige Reiter in Rüstungen und mit Helmen, prunkvoll versteinert und unbesiegbar. Ließ man einen Augenblick die Zeit beiseite, existierten beide Welten wirklich nebeneinander. Welche war die echte und welche die falsche? Sonam glaubte nicht, dass überhaupt die Notwendigkeit bestand, eine Wahl zu treffen. Sie war sehr glücklich, dass die Mola so viel Geduld aufbrachte und ihr zeigte, wie man mit beiden Welten leben konnte.
SIEBZEHNTES KAPITEL
E nde 1957 - im Feuer-Vogel-Jahr - kam Lhamo aus Peking zurück, eine hochgewachsene Schönheit mit breiter Stirn, lang gezogenen Augen und sanft geschwungenen Brauen, die sich über der schmalen Nase beinahe trafen. Ihr schöner Mund hatte gelernt, Gedanken zu bewahren. Sie hatte die beste Rede für die Schulentlassungsfeier geschrieben und eine begehrte Auszeichnung erhalten, indem sie das chinesische Schulsystem lobte. Sie hatte dabei jeden kritischen Impuls unterdrückt und gezeigt, wie wichtig ein gebildetes Volk für den Fortschritt der Nation war. Sie wollte jetzt in Lhasa ein Lehrerseminar besuchen und hoffte, dass sie in ein paar Jahren selbst würde unterrichten können. Lehrer waren in Lhasa sehr gesucht. Auch Kelsang, der seine Schulzeit in Lhasa beendete, würde im Frühling nach Peking gehen. Kelsang konnte es kaum erwarten. Er war sehr von sich selbst eingenommen. Dass die ältere Schwester mehr wusste als er und auch bereits eine sehr chinesische Autorität zeigte, missfiel ihm. Nur bei Sonam, der eigenwilligen, störrischen kleinen Schwester, errang Lhamo wenig Bewunderung:
»Ich will nicht so gescheit werden wie du. Ich bleibe lieber bei der Mola und bei Dakini.«
»Ja, du riechst noch immer nach Pferdestall!«, neckte sie Lhamo. »Kommt es eigentlich vor, dass du dich wäschst?«
Inzwischen trafen Longsela und Paldor ihre Vorbereitungen. Sie hatten an Baba Rajendra ein Telegramm aufgegeben und ihr Kommen angekündigt. Einige Tage vor der Abreise suchte
Longsela ihre Freundin auf. Ling saß neben dem Ofen und korrigierte Hefte, die im Stapel vor ihr auf dem Tisch lagen. Longsela hätte das kleine Sommerhaus längst verkaufen können. Sie verzichtete darauf; sie wollte, dass Ling und An Yao es bequem hatten. Ihr Leben war entbehrungsreich genug.
Ling war in einen Wollschal eingewickelt. Sie fror ständig und wurde immer dünner.
»Ist Post für dich gekommen?«, fragte Longsela.
Nach der Befreiung war Lings ältere Schwester Mei, die früher Amanda geheißen hatte, nach Schanghai zurückgekehrt. Sie hatte sich, wie so viele, dem Wiederaufbau Chinas gewidmet. Seit drei Monaten war Ling ohne Nachricht von ihr.
»Ich habe ihr ein Telegramm geschickt. Keine Antwort. Nichts. Das ist noch nie da gewesen.«
Radio Lhasa gab nur die offiziellen Nachrichten der Partei durch. Die tibetische Abteilung von All India Radio berichtete von Unruhen. Was wirklich in China vor sich ging, wusste keiner. In Lings Weltbild aber durfte es irgendwelche Konflikte gar nicht geben, denn die Dinge in China waren in ein reibungsloses System der Vollkommenheit geglitten. Dass diese Harmonie den heftigsten Strömungen ausgesetzt wurde, nahm sie nur mit Widerwillen wahr.
»Wahrscheinlich funktioniert die Post nicht«, sagte Longsela.
Ling antwortete stoisch: »Das hörte ich schon von verschiedenen Leuten. Ach, Longsela, ich bin eine Plage! Mir fehlt es ganz einfach an Geduld.«
Das Dienstmädchen, eine Tibeterin vom Land, die glücklich war, in der Stadt leben und ihre alten Eltern mit etwas Geld unterstützen zu können, brachte Jasmintee in kleinen Schalen. Ling mochte keinen Buttertee.
»Wann gehst du?«, fragte Ling.
Longsela trank einen Schluck. Der Tee war heiß, und sie verbrannte sich die Zunge.
»In zwei Tagen. Wir fahren mit dem Jeep.«
»Warum habt ihr keinen Flug gebucht? Nach Darjeeling gibt es doch gute Verbindungen.«
»Wir fahren zuerst nach Shigatse, zu den Schwiegereltern. Wir haben sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Paldors Vater geht es nicht
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