Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
außer einem ebenso festen Glauben. Die Chinesen brachten Fragen - die Tibeter wollten keine Fragen, auch Longsela nicht. Fragen machten alles zu deutlich. Die Angst, die sich in ihr regte, war eine Angst am Rande und jenseits gewöhnlicher Angst. Sie konnte fühlen, wie die Angst mit jedem Atemzug an Kraft, an Antrieb gewann. Im krampfhaften Bemühen, diesem Zustand ein Ende zu setzen, beschwor Longsela die Dzi-Steine, sagte im Geist die magischen Worte auf: »Steine, erfüllt unseren Wunsch! Alles soll bleiben, wie es vorher war. Macht, dass wir wieder nach Hause kommen.«

    Paldor sah, wie ihre Lippen sich bewegten, und drückte ihre Hand, bevor er die klammen Finger löste und Longselas Hand aus seiner glitt. Ihre Augen trafen sich, und beide tauschten ein Lächeln. Es war ein schwaches, betrübtes Lächeln, aber das genügte. Sie waren immer noch traurig gestimmt, doch die Zuversicht vollbrachte kleine Wunder, die ihnen als objektive Empfindungen, als etwas Reales erschienen. Aus irgendeinem Grund, den sie sich nicht erklären konnten, war die Angst nicht mehr da. Ihr Verschwinden machte alle Dinge leichter zu ertragen. Die Wirklichkeit mit ihren ganz konkreten Gefahren wirkte plötzlich viel weniger bedrohlich.
    Schon begann das Vorgebirge, ein Hügel nach dem anderen, eine sich hebende und senkende Landschaft, mit Kuppen und Kämmen. Und weit unten am Himmel, aufragend über die Berge der nächsten Umgebung, schimmerten die Herrscher über Schnee und Eis, die Gipfel des Himalaya.
    Indessen, die Reise verlief ohne Zwischenfälle, obwohl die Straße streckenweise in sehr schlechtem Zustand war; eine ungeschickte Bewegung des Fahrers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, das kleinste Versagen des Motors oder der Bremsen - und die Fahrzeuge kamen von der Straße ab. Dies geschah oft. Longsela und Paldor sahen immer wieder Reste von Wagen, die hundert Meter tiefer zerschellt waren. Der Winter hatte sie unter Eis und Schnee begraben, jetzt waren nur noch rostige Wrackteile übrig. Dann und wann sah man wohl kleine Gruppen von Arbeitern, die am Straßenrand saßen und Steine zerkleinerten. An einigen Stellen war die Straße mit diesen Steinen frisch aufgeschüttet worden. Longsela fiel auf, dass die Vorarbeiter und Aufseher Chinesen waren. Man erkannte sie an ihren Uniformen. Alle Arbeiter aber waren Tibeter. Unter ihnen befanden sich auch Frauen und Kinder, die noch im Schulalter waren.
    Sie erreichten Shigatse, froh, dass sie nach so vielen Nächten im Zelt oder in ungemütlichen Gasthäusern endlich ein
weiches Bett, ein geheiztes Zimmer hatten. Noch ehe sie erwacht waren, stand ein Diener mit süßem Tee und Gebäck an ihrem Bett; man brachte ihnen warmes Wasser zum Waschen. Die Schwiegereltern aber waren stark gealtert. Während Dechen noch Spuren ihrer vergangenen Schönheit zeigte und sich auch ihren Sinn für Humor bewahrt hatte, war Dorje Kadrun am Erblinden und ging nur noch am Stock. Vor ein paar Monaten war er gestürzt. Oberschenkelhalsbruch. Im Zusammenhang damit sprach er oft von den Chinesen. Er hatte im Krankenhaus schlimme Geschichten gehört.
    »Sie haben keinerlei Achtung vor uns. Man sagt, dass sie an tibetischen Kranken neue Medikamente ausprobieren. Als dem Sohn meines Freundes Tsering der Blinddarm operiert wurde, hat der Vater sein Kind lieber einem indischen Arzt anvertraut.«
    Longsela und Paldor ihrerseits erzählten, dass sie in Lhasa freundliche und hilfsbereite chinesische Ärzte getroffen hätten. Darunter auch die Krankenschwester, die Yangzom Spritzen gab, um ihre Gelenkschmerzen zu lindern.
    »Diese Spritzen bringen ihr wirklich Erleichterung«, sagte Paldor.
    »Wir haben auch gute chinesische Freunde«, warf Longsela ein. »Sie versprachen uns, nach den Kindern zu schauen.«
    »Traust du ihnen?«, fragte Dechen.
    »Ja, und zwar von ganzem Herzen. Großzügigere Menschen sind mir selten begegnet.«
    »Achten sie die Religion?«, fragte Dorje Kadrun.
    »Oh ja. Sie betreten unsere Heiligtümer voller Respekt und spenden Butter. Wobei gesagt werden muss, dass sie ehemalige Christen sind. Aber sie richten sich im Leben eher nach den moralischen Vorschriften des Konfuzius.«
    »Und wie denken sie über Mao Tse-tung?«
    »Ach, sie verehren ihn sehr. Obwohl sie manchmal auch Kritik üben. Hinter vorgehaltener Hand, versteht sich.«

    Dorje erzählte, dass sie auf einer Pilgerreise Chinesen in Lumpen gesehen hatten, die Ketten trugen und den Teerbelag der Straße erneuerten. Es seien

Weitere Kostenlose Bücher