Das Haus der Tibeterin
wachrüttelte und meldete, dass Baba Rajendra im Salon auf ihn wartete. Paldor hatte noch immer ein starkes Bedürfnis nach Schlaf. Seine Lider waren wie Blei. Er warf sich kaltes Wasser ins Gesicht, fühlte sich in der schweren indischen Luft erschauern. Mit unsicheren Schritten begab er sich in den Salon, wo Baba Rajendra vor einem Tässchen mit schwarzem Kaffee saß.
»Haben Sie schon die Nachrichten gehört?«
Paldor machte ein verneinendes Zeichen. Sein Kopf schmerzte - auch nach dem Schlaf war er noch nicht wieder klar -, sein Denken war wirr, und er fragte sich, ob er sich nicht vielleicht bei Longsela angesteckt hatte.
»China hat Tibet überfallen«, sagte Baba Rajendra. »Die Volksarmee hat Lhasa unter Beschuss genommen.«
Seine Worte drangen nur langsam in Paldors Bewusstsein. Legte er sich wieder hin und schlief eine Weile, so würde er nachher glauben, er habe das alles nur geträumt. Baba Rajendra saß mit gespreizten Beinen, den Oberkörper vornübergeneigt, in einer wachsamen, besorgten Haltung, als ob er darauf gefasst war, dass Paldor vor seinen Augen gleich zusammenbrechen würde.
»Es tut mir leid, mein Freund«, sagte er kummervoll. »Es ist Neujahr in Tibet, und eigentlich wollte ich Ihnen meine Glückwünsche bringen.«
Paldor knirschte mit den Zähnen. Ein Grauen kroch ihm über die Haut; es war heller Nachmittag, doch seine Augen
glaubten zu sehen, wie dichtes Dunkel sich in das Licht mischte.
Er griff sich mit beiden Händen an die Stirn und sagte mit rauer Stimme: »Das bedeutet ja Krieg!«
NEUNZEHNTES KAPITEL
E s dauerte mehrere Tage, bis die ersten Nachrichten durchsickerten. Danach überstürzten sich die Unglücksbotschaften. Strategisch gesehen, war es ein guter Schachzug gewesen, dass die Chinesen ausgerechnet am Neujahrsfest zugeschlagen hatten. Von den Feierlichkeiten in Anspruch genommen, hatte sich die tibetische Regierung überraschen lassen. Nun rechnete die Volksarmee mit einem schnellen Sieg. Vergeblich richtete die tibetische Nationalversammlung ein Gesuch an die Vereinten Nationen mit der Bitte um Hilfe. Die Bitte wurde abgewiesen. Kein Land wagte es, sich mit Rotchina anzulegen. Die UNO sprach lediglich die Hoffnung aus, dass China und Tibet sich friedlich einigen mochten. Von der Welt im Stich gelassen, war Tibet einem mächtigen Feind ausgeliefert, der seine Aktion bereits lange im Voraus geplant hatte. Nun wurde der Kampf auf tibetischem Boden ausgetragen. In allen Städten überfielen und plünderten Soldaten der Volksarmee die Häuser der Adeligen, nachdem sie die Bewohner auf die Straße geworfen, verhaftet oder erschossen hatten. All India Radio berichtete, dass Seine Heiligkeit nicht mehr im Potala sei. Wo sich der Dalai-Lama aufhielt, wusste keiner. Gerüchte gingen um, dass er bereits geflohen war. Anderen Quellen war zu entnehmen, dass ihn die Chinesen schon verhaftet hätten. Einige meinten, dass der Krieg bald vorbei sein würde, andere, dass er lange dauern würde, weil sich die Tibeter so verzweifelt wehrten. Überall kam es zu schweren Kämpfen, und die Volksarmee schaffte immer mehr Truppen nach Tibet. Paldors
Gedanken kreisten unentwegt um die Kinder. Er saß nächtelang wach und hörte die Nachrichten von All India Radio. Die chinesische Propagandamaschine lief bereits. Die Regierung in Lhasa war aufgefordert worden, die tibetischen Truppen gemeinsam mit der Volksarmee gegen die rebellischen Khampas aufzubieten. Die Regierung weigerte sich, wusste doch jeder, wie grausam die Chinesen in den Provinzen Kham und Amdo gegen die Aufständischen vorgingen. Sie töteten wahllos Frauen und kleine Kinder, verbrannten Klöster, die seit hunderten von Jahren standen. Sie schändeten und verbrannten die Statuen Buddhas, folterten Mönche und Nonnen auf furchtbare Weise.
Es war an einem dieser schrecklichen Tage, als Paldor, der die Zeitung neben Longselas Bett las, plötzlich merkte, dass sie ihn ansah. Ihr Blick war wach und erstaunt, aber aufmerksam.
»Wo ist Sonam?«, fragte sie. Longselas Stimme war nur ein heiseres Flüstern, aber ihre Worte waren deutlich zu verstehen.
Paldor stammelte das Erste, was ihm in den Sinn kam.
»Sonam? Ach, sie wird wohl bei Dakini sein!«
Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Es war das erste Mal seit Wochen, dass Longsela wieder sprach.
Sie war entsetzlich abgemagert. Ihre geschwollenen Lider wiesen eine seltsame, gelbliche Färbung auf. Sie sah alle Gegenstände im Raum, als würden sie schweben.
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