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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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flackerten zunächst verwirrt, doch etwas von Paldors Ruhe schien sich auch auf sie zu übertragen, denn der verstörte Ausdruck wich aus ihrem Blick.
    »Ja, Paldor«, flüsterte sie. »Was willst du mir sagen?«
    »Longsela, warte hier auf mich. Ich gehe zurück und hole die Kinder.«
    Sie machte eine zurückweichende Bewegung. Doch Paldor ließ ihre Hände nicht los.
    »Ich habe mit Baba Rajendra gesprochen«, fuhr er mit fester Stimme fort, »und alles schon in die Wege geleitet. Ein Flugzeug startet übermorgen nach Lhasa. Die Maschinen der indischen Armee haben Landeverbot. Aber das Flugzeug gehört einer privaten Gesellschaft. Baba Rajendra ist mit dem Besitzer befreundet. Die Chinesen wollen die Landepiste ausbauen; sie haben eine Ladung Teerfässer und Werkzeuge bestellt. Dazu eine Sendung von Konserven. Baba Rajendra hat
den chinesischen Flugleiter bestochen. Die Chinesen bezahlen ihre Kaderleute schlecht. Die Maschine ist eine alte DC-3, ein robustes Ding, das sich sechs Stunden in der Luft halten kann. Kiran Seth, der Flieger, ist ein ehemaliger Militärpilot. Und du weißt doch, wie gut die indischen Piloten sind. Der Begleitpilot ist Chinese, macht aber einen ausgezeichneten Eindruck.«
    Longsela atmete schnell und leicht, wie ein Vogel. Doch sie unterbrach Paldor kein einziges Mal. Erst als er geendet hatte, fragte sie: »Paldor … ist kein Platz mehr für mich in der Maschine?«
    »Nein, Liebes, das Risiko wäre zu groß. Ich bin bhutanesischer Staatsangehöriger. Die Chinesen wollen sich mit Bhutan nicht anlegen; sie befürchten, dass Indien nervös wird. Kiran fliegt schon am nächsten Tag zurück. Ich setze alles daran, dass die Kinder in die Maschine kommen.«
    Longselas bleiche Lippen bewegten sich.
    »Und meine Mutter?«
    »Ich werde für sie tun, was ich kann. Zur Not überlasse ich ihr meinen Platz und komme mit dem nächsten Flug.«
    Longsela schauderte.
    »Und wenn kein Flugzeug mehr geht?«
    »Dann suche ich eine Fahrgelegenheit nach Shigatse und schließe mich einer Karawane an. Das Gleiche auch, wenn ich für die Kinder keine Flugpassage bekomme. Aber Kiran hat versprochen, dass er mir hilft. Er versorgt die Chinesen mit Cognac. Sei ganz ruhig, Longsela. In zwei Tagen sind die Kinder hier, vielleicht auch deine Mutter. Wir bleiben in Indien, bis sich die Lage gebessert hat. Hier im Haus ist Platz für alle …«
    Sie nickte bei jedem Wort, mit gleichbleibender Sanftheit. Ihm fiel auf, dass sie immer wieder auf die Uhr sah. Das war eine neue Angewohnheit von ihr. Das Leben rann dahin, schlug zu, nutzte ab. Für Longsela war die Zeit sehr wichtig geworden.
    »In zwei Tagen, sagst du?«

    »In zwei Tagen, ja. Wenn alles gut geht.«
    Sie legte den Kopf auf die Sofalehne und blieb so, mit geschlossenen Augen, still sitzen. Er wartete, nannte sie dann leise beim Namen.
    »Longsela …«
    Sie schlug die Augen auf. Er strich ihr das Haar zurück. Sie ließ es geschehen. Ihr war heiß, und er fragte sich, ob sie nicht wieder Fieber hatte. Haarsträhnen klebten ihr auf der Stirn. Unvermittelt sagte sie: »Wir müssten noch Möbel anschaffen.«
    Er fühlte Erleichterung und hätte fast glauben können, dass sie endlich beruhigt war.
    »Ja, das wird wohl nötig sein.«
    Sie aber blickte ihn an mit der ganzen Schönheit ihrer Augen, die tiefen Ernst zeigten, als müsse sie das Leid, das er ihr zufügte, ertragen wie alles Übrige, wie einen Schicksalsschlag. Rührte es daher, dass sie krank geworden war? Oder war es der Abglanz eines Schmerzes, den sie unausweichlich auf sich zukommen spürte? Es war, als ob das schwächer werdende Licht mit ihr versank, als ob nur ihr dunkler Umriss zurückblieb.
    »Entsinnst du dich an die Worte des Astrologen? Dass wir uns niemals trennen dürften?«
    »Nur dieses einzige Mal«, erwiderte er dumpf. »Es geht ja um unsere Kinder, und ich weiß mir sonst keinen Rat. Aber es wird nie wieder vorkommen.«
    Sie stützte sich auf den Ellbogen, damit sie ihm ins Gesicht blicken konnte.
    »Wie lange sind wir schon verheiratet, Paldor? Mein Kopf ist schwer. Ich kann mich nicht erinnern.«
    Er lächelte, um sie aufzuheitern. »Seit zweiundzwanzig Jahren, Longsela. Wir sind ein altes Ehepaar!«
    Sie lächelte nicht, sah ihn nur unentwegt an. Ihre Augen waren schöner denn je. Endlich schien sie aus tiefem Nachsinnen aufzutauchen.

    »Ach, haben wir nur so wenig Zeit gehabt, uns zu lieben?« Ihre Worte wurden auf geheimnisvolle Weise eins mit jenen Worten, die er in sich trug

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